Barmherzigkeit statt Gesetz 1. Lesung: Sach 12,10-11;13,1 |2. Lesung: Gal 3,26-29|Evangelium: Lk 9,18-24
Die zweite Lesung aus dem Brief des Apostels Paulus an die Galater steht in einem größeren Zusammenhang. Paulus möchte in diesem Brief hervorheben, dass die Taufe bzw. das Christ-Sein Freiheit schenkt. Das Wort „Freiheit“ wird im Galaterbrief ungewöhnlich oft hervorgehoben. Ihm ist es wichtig aufzuzeigen, dass die Freiheit der Kinder Gottes nicht durch Gesetz geregelt oder hergestellt werden kann, denn auch der frömmste Gesetzestreue sündigt. Paulus hat dies am eigenen Leib erfahren.
Auf seiner Missionsreise nach Galatien, die dem Brief vorausging, traf der Apostel der Völker auf Nachfahren gallischer Einwanderer. Sie waren ein anderer Menschenschlag als die bisher von ihm missionierten Juden, Griechen oder Römer. Der weiter gezogene Paulus erfuhr, dass andere Prediger, die ihm nacheilten, die Uhr zurückdrehen wollten und die Galater wenig entgegenhielten. Das brachte Paulus offensichtlich ordentlich in Rage, denn der heutige Abschnitt des Briefes beginnt mit einem „Aufruf an die Galater. Ihr unvernünftigen Galater, wer hat euch verblendet?“ (Gal 3,1).
Was war da an Zerrüttung eingetreten? Welche Botschaft wollte Paulus in Galatien – in einer Gemeinde ohne Judenchristen – zurücklassen?
Die Reise nach Galatien fand nach dem Apostelkonzil statt. Dort wurde die zentrale Entscheidung über die sogenannte Heidenmission getroffen. Paulus setzte sich mit Inbrunst dafür ein, dass Heiden sich nicht erst beschneiden lassen müssen, um Christen werden zu können. Paulus predigte also in Galatien, dass man den rechten Geist nicht durch „die Werke des Gesetzes“, sondern durch „das Hören der Glaubensbotschaft“ (Gal 3,2) empfangen wird. Durch Glauben an und Vertrauen auf Gott wird man ein guter Christ und nicht durch Halten des Gesetzes durch eine Beschneidung. Das war seine Botschaft, die er nicht unbegründet vertrat. Er wusste, von was er sprach. Er selbst war ursprünglich ein gesetzesbesessener Pharisäer, der die Menschen des neuen Weges verfolgte und an der Steinigung des Stephanus beteiligt war. Paulus selbst hat in einer Obsession das Gesetz ausgelegt und dabei die Menschen aus dem Auge verloren. Er geht in seinen Gedanken von seiner eigenen menschlichen Erfahrung des Scheiterns am Gesetz aus, denn bei einer verbissenen Anwendung verliert das Gesetz jegliche Qualität als Ordnung des Lebens und der Gerechtigkeit. Das sogenannte vierte Gebot verdeutlicht, wozu es die Gebote gibt: „damit du lange lebst und damit es dir wohlergeht in dem Lande, das der HERR, dein Gott, dir geben wird!“ (Dtn 5, 16). Es geht darum, ein gutes Leben zu haben, und nicht darum, von einem Gesetzespanzer eingeengt zu werden. Paulus selbst erfuhr, dass jeder Mensch am Gesetz scheitern muss, denn kein Mensch kann die gesamte Tora halten. Bei einer Fehlanwendung bringt sie sogar anderen Menschen den Tod.
Zeichen der Einhaltung des Gesetzes war die Beschneidung. Sie schaffte jüdische Identität. Was macht aber nun die Identität von Christen aus? Vor diesem Hintergrund rangen die Galater um ihre Identität. Für Christinnen und Christen soll nicht die Beschneidung die Identifikationsgröße sein, diese ist für Paulus keine Grundvoraussetzung einer Gottesbeziehung. Er fordert auf, sich von Christus – seiner Botschaft und von seinem Lebenszeugnis – ausfüllen zu lassen.
In diesem Zusammenhang geht es Paulus um den Stellenwert und die Bedeutung der Taufe. Dem Getauften wird Freiheit geschenkt, er steht „nicht mehr unter dem Erzieher“ (Gal 3,25) bzw. dem „Joch der Sklaverei“ (Gal 5,1). Der Getaufte ändert sein Denken, sein Fühlen, sein Handeln. Er wird nicht mehr vom Gesetz, sondern vom Geist geleitet. Gesellschaftlicher Status ist kein Kriterium mehr, es kommt zu einer Transformation der Beziehungen. Praktizierte und angewandte Nächstenliebe und Barmherzigkeit treten an die Stelle des Gesetzes. Das ist die christliche Identifikationsgröße. Daran werden Christinnen und Christen erkannt.
Durch Missionare, die nach wie vor zur Beschneidung aufriefen, wurde nun in Galatien eine Glaubenskrise ausgelöst. Die Vereinbarungen des Apostelkonzils schienen für die judenchristlichen Gegner des Paulus nicht zu gelten.
Fasst man die Hintergründe zum heutigen Lesungstext zusammen, zeigen sich einige aktuelle Bezugspunkte. Zum einen geht es um die Einhaltung von Vereinbarungen. Erleben wir es nicht auch heute, dass einerseits von Gruppen Papsttreue eingefordert wird und andererseits von den gleichen Protagonisten zum offenen Widerstand gegenüber Papst Franziskus aufgefordert wird? Wir müssen dabei aber nicht nur auf die Weltkirche blicken. Wer kennt die Erlebnisse nicht, dass getroffene Vereinbarungen in Pfarren oder Diözesen durch Kräfte, die Fakten schaffen wollen, über den Haufen geschmissen werden und auch können? Auch das Ringen der jungen Gemeinden um Identität bzw. um den zukünftigen Weg ist sehr aktuell. Ist nicht der synodale Prozess in Deutschland ein Zeugnis einer grundlegenden theologischen und auch politischen Richtungsdiskussion? Auch heute gibt es die nacheilenden Missionare der Tradition und des Gesetzes.
Kennen wir nicht den „alles oder nichts“-Standpunkt bei der Auslegung des Kirchenrechtes, wenn man an quere Menschen oder geschiedene Wiederverheiratete denkt? Wurden hier nicht oft Menschen zumindest an den Rand eines psychischen Todes gebracht? Gibt es nicht auch heute die Sünde der frömmelnden Gesetzestreuen? Werden nicht vor lauter Gesetzesobservanz oft die Bedürfnisse der Menschen und der Gemeinden aus dem Auge verloren?
Die Geschichte scheint sich zu wiederholen. Tröstet es, dass schon Paulus diese Auseinandersetzungen führen musste? Vermutlich nicht. Aber die Gedanken des Paulus trösten, dass die Freiheit der Kinder Gottes nicht durch Gesetz geregelt wird und, dass Jesus mit seiner Barmherzigkeit an die Stelle des Gesetzes getreten ist. Es stellt sich aber auch die Frage, aller Fragen: Werden wir an unserem Christ-Sein erkannt?
Wenn Sie den Text der 1. Lesung aus dem Buch Sachárja anhören möchten:
Wenn Sie den Text der 2. Lesung aus dem Brief des Apostel Paulus an die Gemeinde in Galátien anhören möchten:
Wenn Sie den Text aus dem heiligen Evangelium nach Lukas anhören möchten: