Das Lukasevangelium lesen Eine Einführung von Stefan Schreiber
Der Verfasser des Lukasevangeliums („Lukas“) will zeigen, wie sich Gottes Heil in der Geschichte ereignet hat und immer noch ereignet: immer schon in Israel, speziell im Auftreten Jesu und dann auch in den Christus-Gemeinden. In der geschichtlichen Erinnerung findet die Begegnung mit dem erweckten Jesus statt. Daher gestaltet Lukas den Weg Jesu als Vorbild für den Lebensweg aller Christen. Er greift dazu auf das Markusevangelium zurück, baut aber noch viel andere Überlieferung ein und setzt eigene Akzente.
Lukas stellt seiner Jesus-Biographie als einziger Evangelist ein Proömium, ein Vorwort, voran (Lk 1,1–4), womit er einer literarischen Konvention der Antike folgt und sich als kompetenter Geschichtsschreiber zu erkennen gibt: Er hat Nachforschungen angestellt, daher ist seine Darstellung glaubwürdig und zuverlässig; die Geschichte Jesu, in der sich Gottes Geschichte mit den Menschen verdichtet, bietet eine theologische Begründung des Glaubens. Lukas widmet sein Buch einem gewissen Theophilus, der ansonsten unbekannt ist. Es handelt sich wohl um ein angesehenes Mitglied einer Gemeinde, das Lukas bei der Abfassung und Verbreitung seines Werkes unterstützt hat. Zugleich steht Theophilus stellvertretend für die Christen, für die Lukas schreibt.
Wie es sich für eine gute Biographie gehört, beginnt Lukas mit einer Geburtsgeschichte (Lk 1–2). Die Besonderheit: Er erzählt nicht nur die Geburt Jesu, sondern auch die des Johannes, des späteren Täufers, und verschränkt beide Geburten eng miteinander. Dabei finden zwei wunderbare, von Gott geschenkte Zeugungen bei einer alten Frau bzw. einer Jungfrau statt. Die Erzählform, die eine Geburtsankündigung mit der Geburt eines besonderen Sohnes verbindet, zeigt an, dass Gott einen Neuanfang in seiner Geschichte mit Israel setzt, wie er es zum Beispiel schon bei der Geburt des Samuel getan hat (1 Sam 1–2). Beide Kinder stehen in Beziehung zueinander, Johannes als Wegbereiter und Jesus als Verkörperung der heilvollen Gottesherrschaft. Von Anfang an gehört es zum Wesen der neuen Heilszeit, dass die Heidenvölker in das endzeitliche Heil für Israel integriert werden. Die geisterfüllte Weissagung des Simeon im Jerusalemer Tempel über das neugeborene Jesuskind sagt diese Integration an: „Ein Licht zur Offenbarung für die Heidenvölker und Herrlichkeit für dein Volk Israel“ (2,32). Dazu passt, dass Lukas den Stammbaum Jesu anders als Matthäus bis auf Adam zurückführt (Lk 3,38) – der Heilsplan Gottes umfasst alle Menschen.
Dazu muss Lukas allerdings das Verhältnis seiner Gemeinden zu Israel klären. Er bringt dies in Lk 16,16 auf den Punkt, indem er noch einmal Johannes den Täufer und Jesus in Beziehung setzt: „Das Gesetz und die Propheten (sind) bis Johannes, von da an wird die Königsherrschaft Gottes verkündet …“. Die Ausdrücke „bis Johannes“ und „von da an“ sind nicht exklusiv im Sinne einer Trennung von zwei Epochen, sondern inklusiv als Aufrichtung der endzeitlichen Gottesherrschaft innerhalb Israels zu verstehen. Der Gott Israels hat mit Jesus die Endzeit beginnen lassen, die den Lebensraum der Gemeinden des Lukas darstellt.Dabei besitzt die Zeit des irdischen Lebens Jesu für Lukas eine besondere Qualität. Nach der misslungenen Versuchung weicht der Satan von Jesus (4,13). Weil Gottes Kraft in ihm wirksam ist, hat Jesus Macht über die Dämonen, die Diener des Satans. Er heilt Menschen, vergibt Sünden und bringt in Wort und Tat die Gottesherrschaft zu ihnen. Erst mit dem Eintritt in die Passion erhält der Satan wieder Zugriff auf Jesus (22,3).
Den Weg Jesu nach Jerusalem erzählt Lukas als Prototyp eines gelungenen christlichen Lebensweges (Lk 9,51–19,27). Es ist der Weg der Nachfolge in den Herausforderungen des alltäglichen Lebens. Diesen Weg kann ein Mensch überhaupt nur gehen, weil Gott selbst die Voraussetzung dafür schafft, indem er den sündigen, verlorenen Menschen neu und bedingungslos annimmt. Das ist der Sinn des Gleichnisses vom Vater und seinen beiden Söhnen, das Lukas in die Mitte seiner Jesusgeschichte stellt (Lk 15). Dann darf der Mensch seinen Weg in der Nähe, der Beziehung zu Gott gehen. Diese Nähe findet im Gebet Ausdruck, wofür Lukas eine ganz knappe Form des Vater-Gebets Jesu als Vorbild überliefert (11,2–4). Die neue Beziehung zu Gott bewährt sich für Lukas im Zusammenleben der Gemeinden. Hier legt Lukas großen Wert auf die soziale Dimension christlichen Lebens: Es geht um die konkrete Tat der Liebe gegenüber einem Bedürftigen, nicht um die „richtige“ Religionszugehörigkeit, wie das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zeigt (10,25–37). Und es geht um die Überwindung der Kluft zwischen Armen und Reichen in den Gemeinden; Solidarität legt sich nahe angesichts der Vergänglichkeit aller irdischen Güter (12,16–21; 16,19–31) und angesichts der Einsicht, was es bedeutet, einen „Schatz im Himmel“ zu besitzen (12,34).
Lukas ist davon überzeugt: Letztlich verstehen kann Jesus nur der, der ihm selbst begegnet. Wie man Jesus auch nach Passion und Ostern noch begegnen kann, demonstriert Lukas mit der Emmaus-Erzählung, einer Begegnung, die „auf dem Weg“ stattfindet (Lk 24,13–35). Der „Weg“ der zwei Schüler öffnet den Blick für den Lebensweg der Christinnen und Christen. Wichtig ist dabei die Schrift: Die Schriften Israels lassen sich auf Jesus beziehen, und so kann bei der Lektüre der Schrift eine Begegnung mit Jesus stattfinden, indem sich ein neuer Sinn der Schriften erschließt. Dazu tritt ein rituelles Element: Die Emmaus-Schüler erkennen Jesus erst beim Brotbrechen, und so erscheint das Herrenmahl als bleibende Möglichkeit der Begegnung der Gemeinde mit ihrem erhöhten Herrn. Den Weg der Christen versteht Lukas als Weggemeinschaft mit dem Auferstandenen, der nicht sichtbar und doch anwesend ist.
Stefan Schreiber, Professor für Neutestamentliche Wissenschaft, Universität Augsburg
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort – Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 1/19 publiziert worden.