Das Matthäusevangelium als jüdisches Buch Eine Einführung von Stefan Schreiber
Mit der Überschrift „Buch des Ursprungs Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams“ stellt Mt 1,1 bereits die Weichen. Was jetzt in Jesus geschieht, ist so einschneidend wie seinerzeit die Anfänge der Schöpfung, des „Ursprungs von Himmel und Erde“ bzw. „des Menschen“ (Gen 2,4; 5,1). Dass Jesus als Sohn Davids der Messias ist, der Israel die heilvolle Zuwendung seines Gottes bringt, ist für Matthäus zentral. Wenn er ihn zusätzlich als „Sohn Abrahams“ kennzeichnet, ruft er in Erinnerung, dass Abraham nicht nur Stammvater Israels ist, sondern allen Völkern Segen bringt (Gen 12,3), sodass in Jesus Gottes Heil Israel und den Völkern gilt (Mt 3,9; 8,11).
Entsprechend führt der Stammbaum Jesu in Mt 1,2–16 von Abraham über David zu Jesus. Die vier Frauen, die außer Maria dabei erwähnt werden (Tamar, Rahab, Rut, die Frau des Uria), sind allesamt Heidinnen – und trotzdem Bestandteil der Geschichte Israels. Den Säugling Jesus stellt die Geburtsgeschichte in Mt 1,23 als den vom Propheten Jesaja verheißenen „Immanuel“, d. h. „Gott mit uns“ (Jes 7,14), vor, und zugleich erkennen Heiden, nämlich die „Magier“ (Sterndeuter, Weise), in ihm den „neugeborenen König der Juden“ (Mt 2,2). Die Heilsverheißung an Israel ist mit Jesus in Erfüllung gegangen (2,15), und da diese Verheißung von Anfang an universale Züge trug, sind unter der Herrschaft des erweckten Christus, dem „alle Vollmacht im Himmel und auf Erden gegeben ist“ (28,18), die Völker eingeschlossen. Daher ist es auch kein Widerspruch, wenn die Sendung der Schüler in Mt 10,5f nur „den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ gilt, in 28,19f hingegen „allen Völkern“. Beides gehört zusammen.
Keineswegs aber ist Israel für Matthäus von Gott verworfen. So hat man früher das „Blutwort“ in Mt 27,25 verstanden, in dem die jüdische Volksgruppe in Jerusalem, die Jesu Verurteilung zum Tod unterstützt hatte, Jesu Blut über sich selbst und die nächste Generation herabruft. Diese Gruppe übernimmt damit die Verantwortung für Jesu Tod. Da es sich um den Tod eines unschuldigen Gerechten handelt (27,4.19.24), erhält diese Gruppe (und nur diese) die entsprechende Bestrafung, die sich für Matthäus mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahr 70 n. Chr. ereignete (vgl. 22,1–7).
Den matthäischen Christen – Juden wie Heiden – begegnet Jesu Sendung als Sendung zu Israel. Für Matthäus ist es zentral, dass die Tora als göttliche Weisung zum Leben gültig bleibt. So ruft Mt 5,17–19 zu einem Leben nach der Tora auf, denn der rechte Lebenswandel gehört für ihn zum Christsein dazu. Dazu zeigt Matthäus, wie die Tora im Licht der Botschaft Jesu richtig ausgelegt werden muss, während die Pharisäer, die der üblichen Auslegung verpflichtet sind, unverständig bleiben (z. B. 9,11–13; 12,1–14). Die Auseinandersetzung um das richtige Tora-Verständnis bündeln die Antithesen der Bergpredigt (5,21–45). Sie stellen die Auslegung Jesu der „traditionellen“ Auslegung, die die Schriftgelehrten und Pharisäer vertreten, gegenüber. Dabei werden die Tora-Gebote über ein bloß buchstäbliches (Ehebruch nicht erst bei der Tat, sondern schon im Bewusstsein, 5,28) oder ein eingeschränktes (den Nächsten lieben, den Feind hassen, 5,43) Verständnis hinausgeführt. Jesu Auslegung orientiert sich an der „größeren Gerechtigkeit“ Gottes, die den Zugang zum „Königtum der Himmel“, zur Gemeinschaft mit dem im Himmel als König thronenden Gott eröffnet (5,20.48). Sie führt zum tieferen Sinn und der eigentlichen Intention der Tora-Gebote. Als hermeneutischer Schlüssel zum Verständnis der Gebote dient das radikal gedeutete Liebesgebot (5,43–48; 19,19–21; 22,36–40). Die am Ende der Bergpredigt angeführte Goldene Regel unterstreicht dies (7,12): Wenn ich so handle, wie ich selbst von anderen behandelt werden möchte, erfülle ich Gottes Willen, der darauf abzielt, dass es den anderen und mir gut geht. Die Bergpredigt zielt auf eine Veränderung des Verhaltens gemäß der übergroßen Güte Gottes. Wie Gott großzügig Vergebung der Sünden schenkt, können auch wir anderen vergeben (18,21–35). Und diese Erfüllung der Gebote ist sowohl für Menschen aus Israel als auch aus den Völkern möglich!
Die Gemeinde des Matthäus begreift sich als Teil Israels, des Volkes Gottes. Sie hat sich aber organisatorisch wohl von den jüdischen Synagogen in ihrer Umwelt getrennt, was sich in der distanzierten Rede von „ihren/euren Synagogen“ (4,23; 9,35) spiegelt. Sie erlebt heftige Konflikte mit Schriftgelehrten und Pharisäern um die Deutungshoheit über die eigene Tradition (10,17f; 12,22–42; 23,34f). Dabei wird die Gestalt des Petrus in Mt 16,18f wichtig: Als „Fels“, auf dem die Gemeinde gebaut ist, ist Petrus der Garant ihrer Tradition, die sie mit Jesus verbindet. Seine Vollmacht zum Binden und Lösen meint die Autorität zur gültigen Auslegung der Tora. Doch in 18,18 überträgt Jesus diese Vollmacht der ganzen Gemeinde. Sie entscheidet, was richtiges und falsches Verhalten gemäß dem Willen Gottes ist, und sie besitzt die Vollmacht, ihre Überlieferung immer wieder auf neue Lebenssituationen anzuwenden.
Petrus wird auch zum Vorbild des Vertrauens auf Christus, ohne das christliches Leben nicht gelingen kann: Wenn er trotz Sturm aus dem gefährdeten Boot (ein Bild für die bedrohte Gemeinde) steigt, um dem Herrn zu begegnen, dann Angst bekommt und untergeht, jedoch vom Herrn gerettet wird (14,22–33), verkörpert er die Spannung zwischen Vertrauen und „Kleinglauben“. Das Vater-Gebet Jesu (6,9–13), das im Zentrum der Bergpredigt steht, stärkt das Vertrauen der Schüler Jesu auf den barmherzigen Gott.
Stefan Schreiber, Professor für Neues Testament, Universität Augsburg
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort – Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 1/20 publiziert worden.