Der „Weg“ ins gelobte Land Erläuterungen von Erich Baldauf
Im Ersten Testament finden wir zwei Erzählungen mit Kundschaftern. Spannend ist, dass in der einen Erzählung unmittelbar nach ihrer Rückkehr der Einzug erfolgt und in der anderen nicht. Was ist hinderlich und was ermöglicht den Einzug?
Zwei Erzählungen: Numeri 13 und Josua 2
Die erste Erzählung finden wir im Buch Numeri: Es wird berichtet, dass die Kundschafter – aus jedem Stamm ein Vertreter – in das Land Kanaan hinaufzogen. Sie sollen genau erkunden, wie das Land beschaffen ist: ob das Volk stark oder schwach, klein oder groß ist, ob der Einzug möglich ist oder nicht. Nach vierzig Tagen kehren sie mit gesammelten Früchten, Trauben, Granatäpfeln, Feigen u. a. zurück. Wir kennen die Bilder aus der Kunst mit den Früchte tragenden Männern. Die Zurückkehrenden erzählen, dass es wirklich ein Land ist, in dem Milch und Honig fließen, auch reich an Früchten, aber den Aufbruch wagen sie nicht. Es folgen heftige Diskussionen. Es entstehen Gerüchte, die Bewohner seien Riesen, die alle Menschen so klein wie Heuschrecken erscheinen lassen. Es sei zu gefährlich.
Die zweite Erzählung ist im Buch Josua überliefert: Da sind es nur zwei Kundschafter. Sie sollen ein besonderes Augenmerk auf Jericho legen. Sie kommen zur Dirne namens Rahab. Die Bewohner Jerichos bemerken die Eindringlinge und beginnen die Suche. Rahab versteckt sie auf dem Dach ihres Hauses. Am Abend steigt sie zu ihnen hinauf und erklärt, dass sie bereits vieles vom HERRN, dem Gott Israels gehört hat: wie er das Volk Israel aus Ägypten herausgeführt hat. Ihr Volk ist starr vor Angst, weil Israel das Land verheißen ist. Sie bittet die beiden Männer, sie und ihre Familie beim Einzug zu schonen. Die Kundschafter tragen Rahab auf, wenn es dann soweit sei, eine rote Schnur aus dem Fenster des Hauses zu hängen. Sie wollen für ihren Schutz sorgen. Als diese beiden Kundschafter zurückkehren und erzählen, was ihnen widerfahren ist, bricht das Volk am nächsten Morgen auf. Beim Einzug durchqueren sie den Jordan.
Was hilft aufzubrechen?
Es zeigen sich in den Erzählungen drei beachtenswerte Unterschiede:
Ein erster: Im Buch Numeri kundschaften die Männer das Land und ihre Menschen genauestens aus und bringen sogar Früchte mit, aber es wird nie Thema, dass es sich um das verheißene Land handelt. Sie verstehen es als Kampf, als Krieg gegen die im Land Lebenden – und das sind gerüchteweise Riesen. In Jos 2 kommt es zu einem Gespräch zwischen den Kundschaftern und der Dirne Rahab. Die „fremde“ Frau ist es, die ihnen bestätigt, dass es sich um das verheißene Land handelt (Jos 2,8–10). Sie können dem Wort Gottes und seinen Zusagen trauen.
Ein zweiter: Im Buch Numeri kundschaften die Männer das Land genau aus, aber es finden keine Begegnungen mit den Menschen des Landes statt. Es gibt keine Gespräche. Es können keine Beziehungen wachsen, nur Vorbehalte und Ängste. Diese Beziehungslosigkeit verhindert jedes Verständnis für die im Land Lebenden. In Jos 2 wird uns dagegen von einer intensiven Begegnung zwischen den Kundschaftern und Rahab berichtet. Erfahrungen, Ängste, Befürchtungen und Hoffnungen werden ausgetauscht. Es wachsen Vertrauen und Zutrauen. Sie versprechen sich gegenseitigen Schutz und werden Verbündete.
Ein dritter: Die Einziehenden in Jos 2 überqueren bei Jericho den Jordan. Hinter dem Jordan liegt das gelobte Land. Jordan heißt auf Deutsch: „Von Dan herab“. In Dan, dem Stamm der Richter, der sich im Norden angesiedelt hat, liegen die Jordanquellen. Jordan steht für den Fluss des Rechts und der Gerechtigkeit. Das gelobte Land als ein Land, in dem Recht und Gerechtigkeit gelebt und erfahren werden. Es ist ein Land der Solidarität und des Friedens, in dem jede und jeder gut leben kann.
Gelobtes Land liegt vor uns
Es ist Grundlage des gelobten Landes: das Queren des Jordans, in dem Recht und Gerechtigkeit beginnt. Aufbrechen heißt immer ein Wagnis eingehen, Vertrautes und Gewohntes zurücklassen, sei es als Einzelperson, Familie, Gesellschaft oder auch als Kirche und Pfarrgemeinde. Wir dürfen im Vertrauen aufbrechen und weitergehen, dass uns das Land von Milch und Honig in der Zukunft entgegenkommt, nicht im Gewohnten und Bisherigen. Glaubende dürfen sich an der Verheißung aufrichten: Gottes Plan und Perspektive mit uns ist das „gelobte Land“ auch in einer Zeit, in der vieles im Umbruch ist.
Gelobtes Land – einander begegnen
Gelobtes Land wird das Land für jene Menschen, die einander begegnen und sich füreinander interessieren, die sich gegenseitig ihre Erfahrungen und Geschichten erzählen können: Kranke, Arbeitslose, Flüchtlinge, bettelnde Menschen. Durch Begegnen schwinden Ängste und es wächst Verständnis füreinander. Man muss dabei nicht alles tolerieren, im Gegenteil, wenn man sich einander die Zukunft sichern hilft, dann dürfen Erwartungen formuliert, Grenzen gezogen werden, dann braucht es Absprachen und Regeln. Der Weg ins gelobte Land führt über den Aufbau von Beziehungen, damit Fremdes, Befremdliches und Fremdsein ihre trennende Kraft verlieren.
Gelobtes Land gründet auf Recht und Gerechtigkeit
Es sind die Säulen des gelobten Landes: Recht und Gerechtigkeit. Mit dem Absichern von Reichtum – und mag er noch so wohl erworben erscheinen – oder dem Erhalten von Privilegien bleibt der Weg ins gelobte Land versperrt. Es ist eine gemeinsame Aufgabe von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und den Glaubensgemeinschaften, sich in den Dienst des Rechts und der Gerechtigkeit zu stellen. Es ist nicht gelobtes Land, wenn Not mit Mauern ausgegrenzt und unsichtbar gemacht wird, wenn Alleinerziehende nicht wissen, wie sie ihre Kinder ernähren sollen. Gelebte Solidarität sind die Schritte in jenes Land, in dem Milch und Honig fließen (können).
Erich Baldauf, Bibelreferen der Diözese Feldkirch, Pfarrer in Hard
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort – Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 2/20 publiziert worden.