Einen Namen bekommen. Beim Namen gerufen. Eine Hinführung von Helga Kohler-Spiegel
Bei einer Tagung für Lehrpersonen in Litauen kurz nach den ersten freien Parlamentswahlen im Februar 1990 stellten ein Kollege und ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zum Einstieg in die gemeinsamen Fortbildungstage die Frage: „Die Geschichte meines Namens. Wer hat ihn mir gegeben? Hat er sich verändert?“ Bis heute erinnere ich mich, wie lange und wie intensiv die Erzählungen waren: Das ganze Jahrhundert spiegelte sich in ihren Namen. Ein litauischer Taufname, denn im Rahmen der Kirche war die litauische Sprache erlaubt. Ein russischer Name, weil Litauen davor und dann wieder ab 1945 zur Sowjetunion (UdSSR) gehörte. Und manche hatten auch noch einen deutschen Namen, Litauen war von 1941 bis 1944 von der deutschen Wehrmacht besetzt. Politische Geschichte eines Landes im eigenen Namen. Ich habe die Erzählungen der Menschen bis heute präsent.
Einen Namen bekommen
Unsere Namen haben eine Geschichte. Manche von uns wissen, wer uns unseren Namen gegeben hat und warum wir einen oder mehrere bestimmte Namen tragen. Manche von uns haben einen familiär geprägten Namen, andere vielleicht nicht. Am Beginn des Lukasevangeliums werden die Schwangerschaft von Elisabeth und Maria sowie die Geburt von Johannes dem Täufer und Jesus in einer Erzählung miteinander verbunden (Lk 1 und 2). Interessant dabei ist, dass beide Buben ihre Namen nicht wie üblich von den Eltern in der Tradition der Familie bekommen, sondern von Gott selbst, übermittelt vom Engel. Es wird erzählt, dass sich Elisabeth – und dann bestätigend auch Zacharias – gegen ihre Verwandten und Nachbarn durchsetzen müssen (Lk 1,57–63). Von Beginn an wird deutlich: Da kommt ein Baby für die Eltern überraschend zur Welt – und die Eltern überraschen, indem sie ihm nicht den Namen geben, den alle erwarten, sondern das Kind so sein lassen, wie Gott es gedacht hat – mit dem Namen, den Gott für dieses Kind bereithält: Johannes heißt übersetzt „Gott ist gnädig“.
Beim Namen gerufen
Mich spricht es immer wieder an, wenn ich direkt mit meinem Vornamen angesprochen werde, wenn ich spüre, dass ich gemeint bin. Nicht aufgerufen wie bei einem Amt oder beim Arzt. Nicht tadelnd oder korrigierend gerufen, wie manchmal als Kind, wenn ein Lehrer oder eine Lehrerin mich – meist ermahnend – beim Namen rief. Manche erzählen, dass sie als Jugendliche in der Schule teilweise nur mit dem Nachnamen angesprochen wurden. Furchtbar. Vielleicht aber haben Sie auch im Ohr, wie eine nahe Person in der Kindheit Ihren Namen liebevoll ausgesprochen hat, vielleicht gab es eine Koseform, die nur in Ihrer Familie üblich war, oder wie Sie nur von Freunden gerufen wurden.
In der Bibel werden Menschen beim Namen gerufen, diese Anrede kann in der Bibel ein Leben in neue Wege leiten und verändern. „Beim Namen gerufen sein“, ist in der Bibel Anrede und Herausforderung zugleich. Wenn die Bibel entlang der Geschichte von Menschen erzählt, wie Gott die Menschen begleitet, können sich auf diesen Lebenswegen auch Namen verändern. Am Beginn der Erzeltern-Erzählungen ist der Segen Gottes an Abram überliefert: „Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft … Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein!“ (Gen 12,1–2) Später auf seinem Weg wird Abram im Bund, d. h. in der Verbindung und Verbündung mit Gott, nicht mehr Abram, sondern Abraham heißen: „Abraham, Vater der Menge, wird dein Name sein, denn zum Stammvater einer Menge von Völkern habe ich dich bestimmt.“ (Gen 17,5) Manchmal verändern sich Namen auf dem Lebensweg.
„Die Erprobung Abrahams“ wird die Szene in der neuen Einheitsübersetzung genannt, in der Abraham wieder beim Namen gerufen wird – mehrfach: „Abraham!“ Und Abraham antwortet auf den Ruf Gottes: „Hier bin ich.“ Abraham soll seinen Sohn Isaak opfern, wie es damals üblich war. Und Abraham macht sich auf den Weg. Eine erschütternde, eine erschreckende Szene. Und im entscheidenden Moment der höchsten Gefahr hört Abraham wieder die Stimme Gottes, in der Stimme des Engels: „Abraham, Abraham!“ Und er antwortet wieder: „Hier bin ich.“ (vgl. Gen 22,1–19) So erschreckend und so bedeutsam kann es in der Bibel sein, wenn ein Mensch beim Namen gerufen wird. Gut, dass Abraham vor allem den zweiten Ruf gehört hat!
Auch von Mose mag ich erzählen: Bereits als Kind ist Mose gefährdet, der Pharao lässt alle nicht-ägyptischen kleinen Buben ermorden. Durch die List der Frauen überlebt Mose und wächst zuerst bei seiner leiblichen Familie und dann am Hof des Pharao auf, deshalb auch sein ägyptischer Name, den ihm die Tochter des Pharao gegeben hat. Später, als Mose im Zorn einen ägyptischen Sklavenaufseher ermordet, muss er fliehen. Er hat Glück und findet in Midian seine Frau Zippora und eine neue Familie, sein Leben ist wieder in stabilen Bahnen. Und wieder wird einer beim Namen gerufen: Mitten aus dem Dornbusch hört Mose die Stimme Gottes: „Mose, Mose!“ Und Mose antwortet: „Hier bin ich.“ (vgl. Ex 3,1ff)
Berufungsszenen in der Bibel sind (fast immer) verbunden mit der Anrede der Person, mit der Antwort der angesprochenen Person: „Hier bin ich!“, mit einem Auftrag und einer Widerrede, dass dieser Auftrag nicht möglich ist, und einem bestätigenden Zeichen. Auch das Neue Testament beginnt damit, dass – hier – eine junge Frau beim Namen gerufen wird. Bei der Verkündigung Marias ist die junge Maria gerufen wie Mose und wie die Propheten: „Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr (d. h. Gott) sei mit dir. … Fürchte dich nicht, Maria …“ (Lk 1,28–30). Beim Namen angesprochen zu sein, beim Namen gerufen zu sein, ist wunderbar. Und es kann auch eine ziemliche Herausforderung sein.
Helga Kohler-Spiegel
Theologin, Psychotherapeutin, Professorin an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg, Feldkirch
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort – Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 4/18 publiziert worden.