Gottes Sohn und Gottes Kinder
In der Eucharistiefeier werden wir zum gemeinsamen Gebet des Vaterunsers mit der Wendung aufgefordert: „Wir heißen nicht nur Kinder Gottes, wir sind es …“ Daher sollen wir Gott in der dazu passenden Weise ansprechen: „Vater unser im Himmel …“ Diese Gotteskindschaft ist weder Verdienst noch Zufall. Anhand des Neuen Testaments können wir den Hintergrund dazu nachzeichnen.
Sohn Gottes
Markus eröffnet sein Evangelium mit dem Satz: „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus – Sohn Gottes“ (Mk 1,1). Stillschweigend denken wir einen bestimmten Artikel dazu: Der Sohn Gottes. So hat es der Evangelist wohl auch gemeint, aber doch etwas anders, als wir denken. Denn diese Bezeichnung ist weder neu noch so exklusiv, wie wir sie oftmals in unserer Glaubenstradition verstehen. Gottessöhne begegnen bereits in der Jüdischen Bibel, z. B. in einer rätselhaften Geschichte im Buch Gen (6,1-14). Der Inhalt ist jetzt weniger wichtig, bedeutsam ist die Bezeichnung für die ursprünglich mit Gott verbundenen Wesen, von denen hier die Rede ist: Sie werden ohne Bedenken „Gottessöhne“ genannt. Ob mit dieser Benennung eine Verwandtschafts- oder eine Herkunftsaussage gemeint ist, lassen wir dahingestellt. Auf jeden Fall ist von einem Naheverhältnis die Rede: Damit ist eine Beziehung umschrieben, die sehr persönlich, eben verwandtschaftlich gedacht ist. Im persönlichen Lebensumfeld gab es dafür wohl entsprechende Anschauungsbeispiele.
Es mag dann nicht verwundern, dass in der Jüdischen Bibel bedeutsame Persönlichkeiten als „Sohn Gottes“ bezeichnet werden. In der so genannten Natanverheißung wird diese Würde in einer Gottesrede dem Nachkommen Davids zuerkannt: „Ich werde ihm Vater sein, und er wird mir Sohn sein“ (2 Sam 7,14). Es verwundert nicht, dass solche Sätze sodann vorausblickend auf den Messias gedeutet wurden.
Sohnschaft Gottes hängt mit der religiösen Würde des Menschen, mit seinem Glaubenseifer zusammen. So kann der Gerechte als „Sohn Gottes“ bezeichnet werden: „Gott nimmt sich seiner an und entreißt ihn der Hand seiner Gegner“ (so Weish 2,18). Der Psalmist setzt diesen Titel in einer Gerichtsrede ein: „Ich habe gesagt: Ihr seid Götter, ihr alle seid Söhne des Höchsten“ (Ps 82,6). Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Wir nehmen daraus die Erkenntnis mit, dass die biblischen Verfasserinnen und Verfasser die Bezeichnung als „Sohn Gottes“ nicht einzig und allein auf Jesus von Nazaret anwenden.
Der eine Sohn
Was meint also Markus, wenn er sein Evangelium mit dieser bedeutsamen Überschrift eröffnet? Es ist das Evangelium von einem Sohn Gottes, aber eben nicht von irgendeinem, sondern von dem einen Sohn Gottes schlechthin. Die Jesusdarstellung dieser Schrift, ja insgesamt die Jesusgeschichten der Evangelien sollen dies zeigen: Nicht nur, weil sie Jesus als einen „Gerechten“ (so Lk 23,47) darstellen, sondern weil im Wirken Jesu sein einzigartiges Naheverhältnis zu dem einen Gott offengelegt wird, angefangen von seiner Taufe im Jordan bis zu seinem Tod und zu seiner Auferstehung: Gott ist in und mit diesem Jesus von Nazaret so engagiert, wie es nur ein Vater in und mit seinem Sohn sein kann. Das ist die grundlegende Überzeugung schon der frühen nachösterlichen Zeit. Sie findet in den biblischen Schriften ihren Niederschlag, und sie führt dazu, dass der Titel „Sohn Gottes“ zu einer Kernaussage über diesen Jesus von Nazaret wird, der von Ostern an als der auferstandene und erhöhte Herr, eben als „sein Sohn“ wahrgenommen wird. Die Bezeichnung ist die Summe von Beziehungsintensität, wie insbesondere der Verfasser des Johannesevangeliums hervorhebt. Lukas und der Verfasser des Matthäusevangeliums unterlegen diese Überzeugung mit dem Hinweis auf eine auch abstammungsmäßige Sohnschaft: In ihren Vorgeschichten fassen sie dazu wohl Überlieferungen aus der Frühzeit der Kirche zusammen (Mt 1-2; Lk 1-2).
Töchter und Söhne Gottes
Was bedeutet das für uns? – Bereits sehr bald nach Ostern haben sich die Menschen in der Bekenntnisgemeinschaft um Jesus Christus diese Frage gestellt. Die älteste Antwort darauf formuliert Paulus: „Alle seid ihr durch den Glauben Töchter und Söhne Gottes in Christus Jesus“ (Gal 3,26). Die nachgestellte Präzisierung ist entscheidend, sie bedeutet: Unsere Gotteskindschaft ist nicht selbsttragend, sondern sie ist abgeleitet vom Christusgeschehen, gleichsam also eingebunden in diese eine Sohnschaft Jesu Christi, an der wir teilhaben. Paulus begründet deshalb: „Denn ihr alle, die ihr auf Christus [hin] getauft seid, habt Christus als Gewand angezogen“ (Gal 3,27). Diese vollkommene Einhüllung oder Umhüllung durch Jesus Christus beschreibt erneut die vorausgesetzte intensive Beziehung zu Jesus Christus, die uns zu seinen Schwestern und Brüdern und zu Gottes Töchtern und Söhnen macht. Im Glauben und aufgrund des Neu-Geboren-Werdens aus Wasser und Geist habe uns Gott dazu ermächtigt – so vertieft der Verfasser des Johannesevangeliums diese Sichtweise (Joh 1,12-13; 3,5). Für beide biblischen Verfasser ist die Taufe die Geburtsstunde dieser intensiven, familiären Gottes- und Christusbeziehung. Denn darin geschieht im (sakramentalen) Zeichen die Eingliederung in eine personale Schicksalsgemeinschaft (vgl. dazu bes. Röm 6,3-11). „Mit Christus“ ist dafür die paulinische Kurzformel.
Die liturgische Überleitung zum Vaterunser will keine leere Formel sein, sondern eine ermutigende Rückfrage: Wer sind wir, warum sind wir es und wem haben wir es zu verdanken. Besinnung (ev. anhand der angesprochenen Bibeltexte) ist also angesagt.
Walter Kirchschläger, Em. Professor für Neues Testament, Luzern
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort – Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 2/18 publiziert worden.