„Herr, zeig uns den Vater“ (Joh 14,8) Martin Hasitschka über Jesu Kunde von Gott im Johannesevangelium
Gestützt auf ausgewählte Belege möchte dieser Beitrag Besonderheiten des Johannesevangeliums hervorheben.
Der Prolog als Leseanleitung
Das im Johannesevangelium dargestellte Wirken des irdischen Jesus betrachten wir in der im Prolog vermittelten Überzeugung, dass Jesus „das Wort“ (logos) verkörpert, das von Uranfang an bei Gott ist und zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt Mensch geworden ist, einer von uns. Weil er wie kein Mensch sonst in unserer Welt in einem einzigartigen Nahverhältnis zu Gott steht, kann er uns zuverlässiges Wort von Gott verkünden. Der Prolog schließt mit einer Aussage, die wir auf die gesamte Sendung Jesu beziehen dürfen: „Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht“ (Joh 1,18). Wiederholt hebt das Johannesevangelium hervor, dass niemand außer Jesus Gott geschaut hat. Jesu Kunde von Gott ist verankert im Gottesverständnis des Volkes Israel. Zugleich kommt mit seinem Zeugnis für Gott etwas, das bisherige Gottesvorstellungen überbietet.
Vergleichbar mit der Aussage am Schluss des Prologs sind die abschließenden Worte Jesu in seinem Gebet zu Gott kurz vor seiner Gefangennahme. Im Blick auf die an ihn Glaubenden sagt er: „Ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde ihn kundtun“ (Joh 17,26). Mit dem Namen Gottes ist sein innerstes Wesen gemeint.
Bereits der Prolog weist uns hin auf Jesu Heilsgabe, nämlich „das Leben“ (zōē). Es ist innerlich mit „dem Wort“ verbunden und auch als Wirklichkeit einer Kommunikation zu denken. Zugang zum Leben finden jene, die an Jesus „glauben“.
Noch in einer anderen Hinsicht gibt uns der Prolog eine Leseanleitung. Auffällig sind nämlich Aussagen in der „wir“-Form: „Wir haben seine (= Jesu) Herrlichkeit gesehen“ (Joh 1,14) und „aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade über Gnade“ (Joh 1,16). Gemeint sind nicht nur die Anhänger Jesu damals, sondern auch wir, die Leser und Leserinnen des Johannesevangeliums heute. Wir lesen es im Licht von Ostern und lernen darin den kennen, der als der Auferstandene heute bei uns ist.
Bereits jetzt ewiges Leben haben
Typisch für das Johannesevangelium sind die mehrfachen Hinweise, dass die an Jesus Glaubenden ewiges Leben haben. Das Verbum „haben“ steht im Präsens. Ein schönes Beispiel finden wir im Gespräch Jesu mit Nikodemus. Jesus sagt: „Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat“ (Joh 3,16), und zwar jetzt schon.
Jesus ist gekommen, damit wir „das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10). Das zeigt sich besonders in den „Zeichen“, die er wirkt. Zu ihnen zählen die Gaben von Wein und Brot in Fülle, die Heilungen von Kranken und zuletzt die Auferweckung des verstorbenen Freundes Lazarus.
Den Reichtum des Lebens, das Jesus nicht nur gibt, sondern sogar verkörpert, veranschaulicht er in seinen „ich bin“-Worten. „Ich bin das Brot des Lebens“; „Ich bin das Licht der Welt“; „Ich bin der gute Hirt“; … Insgesamt sind es sieben Worte, die mit Bildern aus der Alltagswelt die Heilsgabe des Lebens deuten. In Verbindung mit diesen Worten wird auch die eine und einzige Voraussetzung für die Erlangung des Lebens genannt, nämlich „glauben“, Jesus vertrauen.
„Herr, zeig uns den Vater; das genügt uns“ (Joh 14,8)
Auf diese Bitte des Philippus in den Gesprächen beim letzten Abendmahl antwortet Jesus: „Schon so lange bin ich bei euch und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (Joh 14,9). Ähnlich hat es Jesus bei seiner letzten Rede in der Öffentlichkeit nicht nur gesagt, sondern ausgerufen: „Wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat“ (Joh 12,45). Der Gott, den kein Mensch je gesehen hat, wird sichtbar und hörbar in Jesus.
In einem übertragenen Sinn ist Jesus „Ort“ der Gegenwart Gottes. Das deutet er bei der Tempelreinigung am Beginn seines öffentlichen Wirkens an. Er sagt: „Reißt diesen Tempel nieder und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten“ (Joh 2,19). Er meint „den Tempel seines Leibes“. Nicht mehr ein Tempel ist für uns besonderer Ort der Gottesnähe, sondern Jesus, der Auferstandene.
Der Zeuge und seine Zeugen und Zeuginnen
Von Anfang an tragen Zeugen und Zeuginnen dazu bei, dass Menschen zum Glauben an Jesus gelangen. Bereits Johannes der Täufer erscheint als Zeuge für Jesus. Später engagiert sich die Frau am Jakobsbrunnen als Zeugin für ihn. Von seinen Jüngern erwartet Jesus, dass sie als Zeugen für ihn auftreten, und zwar mit Hilfe des Heiligen Geistes, der ihr „Beistand“ ist.
Jesus selbst sieht seine Sendung darin, dass er „für die Wahrheit Zeugnis“ ablegt (Joh 18,37). Er hält an seinem Zeugnis für Gott fest bis zur Hingabe seines Lebens. Er wird wegen Gotteslästerung zum Tod verurteilt. Er stirbt als Märtyrer. Doch Gott bestätigt ihn durch die Auferweckung.
Maria von Magdala ist die erste Zeugin für den Auferstandenen. Er gibt ihr den Auftrag: „Geh […] zu meinen Brüdern und sag ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott“ (Joh 20,17). Viele Male hat der irdische Jesus Gott als seinen Vater und sich als Sohn bezeichnet. Zum ersten Mal ist nun ausdrücklich die Rede von „eurem Vater“. Jesu „Brüder und Schwestern“, zu denen auch wir uns zählen dürfen, werden hineingenommen in seine einzigartige Gottesbeziehung.
Martin Hasitschka SJ, em. Professor für Neues Testament, Innsbruck
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort.Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 3/21 publiziert worden. Bei Interesse können Sie hier die Zeitschrift bestellen.