Rast auf dem Weg. Rast auf einem Gipfel Gedanken von Josef Walder
Im September 2005 gelang dem amerikanischen Extrembergsteiger Steve House mit seinem Partner Vince Anderson die Durchsteigung der Rupalwand am Nanga Parbat (8125 Meter). Einer 4500 Meter hohen Steilwand, einer einzigen Herausforderung aus Fels, Eis, Schnee, Kälte und Höhe. Davon gibt es ein Foto von Vince Anderson, das ihn kniend auf dem Gipfel zeigt, das Gesicht zum Himmel erhoben, irgendwo zwischen Erschöpfung und Ekstase, tiefstem Schmerz und höchstem Glück schwebend. Die Intensität des Fotos, das die Essenz all dessen zeigt, was Bergsteigen bedeutet, erschreckt.
Wendepunkt
Es gibt die Erfahrung, dass auf dem Gipfel noch keine Rast ist, dass die Erschöpfung lähmt, es ist erst der halbe Weg geschafft, Angst vor dem Rückweg steigt auf, … Es gibt Momente der Erkenntnis, dass genau in dem Augenblick, in dem ich mein Ziel erreiche und mein wahres Ich finde, beides sofort wieder verloren ist. Manchmal gibt es diese Wendepunkte: Alles, was mein Leben bisher ausmachte, scheint auf einmal verloren zu sein.
An einem Ziel oder auf einem Gipfel angekommen, folgt manchmal nicht einfach eine Rast, sondern erst ein tiefes Ringen, so etwas wie die Erfahrung eines dunklen Weges. Da sind Zeiten der Verlorenheit und der Ziellosigkeit, in die man stürzt.
„In dunkler Nacht“ ist ein Gedicht des spanischen Mystikers und Poeten Johannes vom Kreuz aus dem 16. Jahrhundert. Es spricht von der dunklen Nacht der Seele, vom Ringen, den eigenen (Weiter‑)Weg zu erkennen, den Willen Gottes zu erkennen. So etwas wie die dunkle Nacht der Seele durchlebte auch P. Franz Reinisch SAC, nachdem er als einziger Priester der katholischen Kirche den Eid auf Hitler verweigert hatte. Seinen letzten Lebensabschnitt sah P. Reinisch nicht bloß als frei gewählte heroische Entscheidung. Jeder Tag wurde für ihn zu einem Neuentscheid für seinen Entschluss. Das Gebet von Kardinal J. H. Newman „Oh Herr, leite mich!“ war eines seiner Lieblingsgebete. Das ist kein Gebet für eine Gipfelrast oder für einen finalen Zieleinlauf. Es ist vielmehr die Bitte nach Orientierung an Knoten- oder Wendepunkten des Lebens.
Szenenwechsel
Die Verklärung Jesu auf dem Berg (Mk 9,2–10) hat den Jüngern geholfen, das Leid des Herrn zu verstehen. Hier stehen der Gipfel und das Innehalten für eine „Horizonterweiterung“, für Weitblick. Die Berge können Freiheit, Überblick, Sammlung und Höhe geben. Sie führen den Menschen heraus aus der Enge, den Verstrickungen, den Ärgerlichkeiten des Alltags.
Wir sind heute ein wenig in Gefahr, selbst auf den Berg hinauf den Lärm der Tiefe zu verlegen, auch die Höhe zur Tiefe zu machen. Berge können helfen, Abstand zu gewinnen, Freiheit zu finden, Begegnung mit dem Schöpfer, Fähigkeit zum Stillwerden vor ihm, zur Besinnung und so zu neuer Einkehr im Gebet.
Zu allen Zeiten, gerade auch in unseren Tagen, ist es eine Einladung, mit Jesus auf den Berg zu steigen und auf die Stimme Gottes zu achten. Auf diese Weise könne sich jede und jeder vom Heiligen Geist „verwandeln“ lassen. „Die Jünger haben Jesus dort auf dem Berg gesehen, was aus ihm nach der Passion geschehen wird und so bereitete Jesus seine Jünger auf das Leid vor, damit sie das Geheimnis der Liebe Gottes verstehen konnten“, so Papst Franziskus. Die Gottheit Jesu wurde nicht zufällig auf einem Berg verkündet, denn ein Berg ist ein Ort, der in der Bibel als Sinnbild für die Offenbarung Gottes dargestellt wird.
Das Ziel ist der Gipfel, aber …
Die Rast am Gipfel lädt ein, den eigenen Horizont zu erweitern. Anstelle der Rast kann aber auch die mühsame Erfahrung der Desorientierung und des Ringens stehen. Am Berg ist immer auch eine spirituelle Dimension präsent. Die Berge sind eine Schule der Sehnsucht, mich nicht mit zu wenig zufrieden zu geben, die Ziele meines Lebens nicht zu niedrig anzusetzen. Der Gipfel ist das Ziel, aber am Ziel ist man erst, wenn man gesund zu Hause ankommt.
Josef Walder, Theologe, Dozent an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule – Edith Stein, Innsbruck-Stams
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort – Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 2/19 publiziert worden.