Von Verlobungen und anderen “Besonderheiten” Helga Kohler-Spiegel auf der Spur des ungewohnten Begriffes "heilig"
Wenige Tage vor Allerheiligen erzählt die Religionslehrerin in einer dritten Klasse Grundschule von den ersten christlichen Gemeinden, sie erzählt von Paulus, seinen Briefen an die Gemeinden und von der Anrede, mit der Paulus die Christinnen und Christen ansprach: „Ihr Heilige von Korinth“, „Ihr Heilige von Rom“. Das ist heute ungewohnt, verbinden doch viele Menschen mit dem Wort „heilig“ oft besonders fromm sein, besonders viel beten oder sich aufopfern.
Das Wort wurzelt im Hebräischen, es meint – kurz gesagt – „getrennt, anders sein“ sowie „besonders sein“, „gesegnet sein“. „Kiddusch“, vom hebräischen Wort „kadosch“/„heilig“, heißt wörtlich übersetzt „Heiligung“ und bezeichnet den Segensspruch über einen Becher Wein, mit dem der Schabbat und die jüdischen Feiertage begonnen werden – und der hinüberführt von der hektischen Woche in die Ruhe des Schabbat. Bei der jüdischen Hochzeit, die aus der Verlobung und der Hochzeit selbst besteht, wird die Verlobung als „kidduschin“, als „Heiligung“ bezeichnet, weil Braut und Bräutigam einander „etwas Besonderes“ sind. „Heilig“ erinnert daran, dass der Mensch, jeder Mensch etwas Besonderes ist.
Zurück zur Unterrichtssituation: Die Religionslehrerin erzählt den Kindern von Paulus und seiner Anrede an die Christen, und plötzlich sagt ein sehr verhaltenskreatives Kind: Dann sind wir ja auch „heilig“ – und er fängt an, alle Kinder aufzuzählen: „heiliger Kevin, heiliger Rolf, heilige Sabine, heilige Dominique“ und so weiter. Als er nur noch sich selbst hätte nennen müssen, stockt er. Die Lehrerin unterstützt ihn und sagt: Ja, auch du – und der Bub zögert, bis er zaghaft versucht: „heiliger Frank“. Und dann nochmals „heiliger Frank“, „heiliger Frank“. Der Unterricht geht weiter, die Kinder hören von der Botschaft und der Einladung Jesu, so zu leben wie er, und selbst „besonders“ zu sein.
„Kiddusch Haschem“
Im Alten bzw. Ersten Testament wird das Wort „heilig“ sowohl für Gott als auch für das Volk Gottes verwendet. Parallel dazu wird das Wort „heilig“ auch im Neuen Testament verwendet: für Jesus und für die Menschen, die Jesus nachfolgen. Zum Nachlesen seien exemplarisch genannt: Dtn 7,6; Ex 19,5–6; Lev 22,31–32; Jes 30,12.15 sowie Mk 1,24 und 1 Petr 1,15. Immer steht im Mittelpunkt „unterschieden, anders, besonders sein“.
Jüdisch
Der Begriff „Kiddusch Haschem“, die „Heiligung des Namens (Gottes)“, ist ein Kernbegriff im Judentum. Das meint das „Festhalten am Glauben“ – durch die Lebensführung, durch Gebet und Rituale, und – in Zeiten der Verfolgung – auch durch das Martyrium. Die „Heiligung des Namens (Gottes)“ wird sichtbar, indem Menschen nach den Weisungen Gottes leben, oder kurz gesagt: indem sie Gott lieben, den Nächsten und sich selbst.
Christlich
Auch Jesus will mit seinem Leben und seiner Botschaft den Namen Gottes „heiligen“: Viele Gleichnisse und Heilungserzählungen im Neuen Testament sind Erfahrungen von Begegnungen mit Jesus, bekannt sind z. B. die Begegnung mit Zachäus, das Gleichnis vom Vater mit den beiden Söhnen. Diese Erzählungen sind bis heute Einladungen an alle Menschen zu heilenden Begegnungen und Beziehungen. Wie Jesus die Frohe Botschaft leben, das meint „den Namen Gottes heiligen“.
Wenn Christinnen und Christen leben wie Jesus, dann sind sie vermutlich „anders“, sie richten sich nach den Werten, für die Jesus gelebt hat und umgebracht wurde – z. B. „Mitgefühl“, „Nächsten- und Selbstliebe“, „Solidarität“. Vielleicht ist es wieder einmal spannend, die „Bergpredigt“ in der Überlieferung des Matthäus-Evangeliums in Kapitel 5 bis 7 zu lesen. Bis heute ist es eine Herausforderung und eine „Zumutung“, sich mit dem Text auseinanderzusetzen. Vielleicht sind Menschen, die sich trauen, in diesem Sinn christlich zu leben, „besondere Menschen“. Paulus würde sagen: „Heilige“.
Helga Kohler-Spiegel, Theologin und Psychotherapeutin, Professorin an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort – Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 4/19 publiziert worden.