Radikale Rehabilitierung Ein ungewohnter Blick auf Judas Iskarioth von Christoph Klein
Judas nicht als den bösen Verräter zu betrachten, ist heute Mehrheitsmeinung – jedenfalls in der theologischen Zunft. Die Bibel bezeichnet Judas nur an einer einzigen Stelle als Verräter, nämlich in Lk 6,16, und sonst immer nur als den, der Jesus auslieferte. Die 30 „Silberlinge“ (Mt 26,15) waren in neutestamentlicher Zeit längst keine Währung mehr, sodass klar ist: Auch das Motiv der Geldgier fehlte.
Normalerweise heißt es darum, dass Judas seinen Meister auslieferte, um das Verhör durch die Römer zu erzwingen, damit Jesus sich dann politisch als der Messias offenbart. Das Motiv des Judas wäre somit das Heil für das erwählte Volk gewesen. In diesem Sinne wäre Judas rehabilitiert.
Warum sollte Jesus Judas bloßgestellt haben?
In meiner Lizentiatsarbeit mit dem doppelt doppeldeutigen Titel „Überlieferung im Dunklen“ (Luzern 1998) vertrat ich eine andere These – und vertrete sie noch immer, wobei ich nach wie vor am liebsten mit solchen diskutiere, die anderer Meinung sind. An ihnen besteht kein Mangel.
Zunächst die Befunde:
- Bereits Judas’ Beiname Iskarioth liegt im Dunkeln; am plausibelsten ist die Deutung als Herkunftsbezeichnung, die nach Judäa verweist.
- Beim Letzten Abendmahl sagt Jesus: „Einer von euch wird / soll mich ausliefern.“ Wenn man den Satz auf aramäisch rekonstruiert, ist schwer zu sagen, welche der beiden Varianten Jesus wohl eher gesagt und vor allem gemeint hat. Jedenfalls fragt jeder der Zwölf: „Doch nicht etwa ich?“ Dann tunkt Jesus einen Bissen in eine Tunke und reicht ihn Judas, der sodann die gemeinsame Feier verlässt.
- Judas wird als jemand, der Informationen zu einem nächtlichen Aufenthaltsort Jesu geben konnte, zum Hohen Rat vorgelassen.
- Jesus wartet betend und innerlich ringend auf seine Verhaftung im Garten Gethsemani. Das zeigt, dass er verhaftet werden wollte. Seiner Botschaft treu geblieben wäre er nämlich auch dann, wenn er nach dem Letzten Abendmahl ganz normal wie in den Tagen zuvor in seine Unterkunft auf dem Ölberg gegangen wäre.
- Judas führt den Verhaftungstrupp zum Garten. Weil ein Fingerzeig theoretisch genügt hätte, deutet der Kuss auf bleibende Zuneigung und auf seelischen Schmerz bei Judas hin.
- Er stirbt tief verzweifelt und in definitiver Abwendung von der Jesusbewegung – entweder durch Selbstmord (Mt 27,5) oder durch einen grausigen Unfall (Apg 1,18).
- Der Hass auf Judas bereits in der allerfrühesten Kirche hat die Texte durchdrungen und deren Oberfläche verfälscht.
Meine Deutung: Jesus hat Judas beauftragt. Warum auch hätte er ihn vor den anderen Jüngern als den, der ihn aus eigenem Antrieb ausliefern würde, bloßstellen sollen?
Ausgerechnet Judas bekam den Auftrag, weil er als einziger Judäer der Gruppe nicht durch den Dialekt der Galiläer auffiel und sich in Jerusalem wohl besser auskannte. Letzten Endes an Jesus und seiner Sache verzweifelt ist Judas nach ausgeführtem Auftrag trotzdem, weil er wohl damit rechnete, dass Jesus spätestens dann, wenn er vor Pilatus stünde, mitten in Jerusalem das messianische Reich anbrechen lassen würde. Alles andere war für Judas nicht denk- oder glaubbar. Judas bleibt als absoluter Verlierer zurück. Nebenbei: Solche an der Zumutung Gottes Verzweifelten gibt und gab es immer, bis heute. Gut, dass in der Bibel einer davon ausführlich vorkommt.
Warum hielt Jesus seinen Tod für eminent wichtig?
Die These von Judas’ Beauftragung ist ungewohnt, aber weniger wichtig als jene grundsätzliche Frage, warum Jesus seinem Tod allergrößte Bedeutung zumaß. Dies sieht man nicht nur am Warten Jesu im Garten Gethsemani, sondern auch am Abendmahlswort „Dieser Becher ist der neue Bund in meinem Blut“. Natürlich: Ohne Karfreitag kein Christentum. Jedoch: Dass Jesus einfach nur seiner Botschaft treu geblieben sei – und nicht mehr –, klingt modern, ist aber unbiblisch. Trotzdem scheint sich die Erklärung, dass Jesus sein Leben als Lösegeld für die Sünden der Welt bezahlte (Eph 1,7; 1 Petr 1,18f), mit Gleichnissen Jesu zu reiben, denen gemäß der Allmächtige Sünden eben doch „einfach so“ erlassen kann, wie demjenigen vom barmherzigen Vater (Lk 15) oder vom unbarmherzigen Gläubiger (Mt 18).
Wer sich mit der Randfigur Judas auseinandersetzt, denkt somit bald über den innersten Kern des christlichen Glaubens nach.
Christoph Klein, Theologe, Filmemacher, Journalist, Startup-Gründer im Industriebereich, Altstätten/St. Gallen
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort – Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 2/20 publiziert worden.