Belebende Kraft des Wortes 1. Lesung: Neh 8,2-4a.5-8.8-10|2. Lesung: 1 Kor 12,12-31.|Evangelium: Lk 1,1-4;4,14-21
Damit der Text der heutigen ersten Lesung in seiner Bedeutung gut eingeordnet werden kann, soll das geschichtliche Umfeld etwas beleuchtet werden.
In der hebräischen Bibel sind die Beschreibungen von Esra und Nehemia ein gemeinsames Buch. Beide erzählen von der Rückkehr der nach Babylon verschleppten Juden nach Jerusalem. Nicht nur die zwei Bücher Esra und Nehemia sind eng miteinander verbunden, sondern auch die beiden Personen. Esra war priesterlicher Abstammung, während Nehemia ein Mann aus dem Volk – man könnte sagen ein Volksvertreter – war. Die Berichte zeichnen sich dadurch aus, dass sie uns drei identitätsstiftende Maßnahmen schildern, damit sich das Volk wieder zu Hause fühlen und im verheißenen Land gut leben kann. Zuerst kümmerte sich Esra um die Restaurierung des Tempels als Ort der Opfergottesdienste, um die religiösen Rituale und Feste wieder pflegen zu können. Anschließend beginnt Nehemia die Stadt und die Gemeinschaft zu sichern, indem er die Stadtmauer bauen lässt, damit man wieder in Sicherheit und als konsolidierte Gemeinschaft leben kann.
Das dritte Element wird im Text der heutigen Lesung geschildert. Das Geschehen findet zeitlich rund um das jüdische Neujahr und Laubhüttenfest statt. Nachdem der Tempel wieder funktionstüchtig und die Stadt gesichert war, fehlte dem Volk offensichtlich noch eine wesentliche Grundlage, um gut in ein neues Jahr in der alten und neuen Heimat starten zu können, denn das gesamte Volk „bat den Schriftgelehrten Esra, das Buch mit der Weisung des Mose zu holen“ und daraus vorzulesen. Es fehlte dem Volk die Rückbindung an die Worte des Herrn und das gemeinsame Verständnis darüber. Das Volk erkannte und spürte, dass diese Worte eine wichtige Grundlage für ein gutes Fortkommen als Gemeinschaft des Volkes Gottes sind.
Die Bestimmungen der Tora zum Laubhüttenfest sehen eine Besonderheit vor, nämlich eine Wortgottesfeier, die Grundlage aller späteren Gottesdienste in den Synagogen wurde. Im Judentum hatte und hat das Lesen und Hören des Wortes Gottes gottesdienstlichen Charakter. Das Buch Deuteronomium überliefert das älteste Zeugnis über einen außerhalb des Tempels stattfindenden Gottesdienst und diese Weisung ist Grundlage des heutigen Lesungstextes: „Versammle das Volk – die Männer und Frauen, Kinder und Greise, dazu die Fremden, die in deinen Stadtbereichen Wohnrecht haben –, damit sie zuhören und auswendig lernen und den HERRN, euren Gott, fürchten und darauf achten, dass sie alle Bestimmungen dieser Weisung halten! Vor allem ihre Kinder, die das alles noch nicht kennen, sollen zuhören und lernen, den HERRN, euren Gott, zu fürchten. Das sollt ihr so lange tun, wie ihr in dem Land lebt, in das ihr jetzt über den Jordan hinüberzieht, um es in Besitz zu nehmen“ (Dtn 31,11-13).
Diese Vorgabe enthält einige Besonderheiten, auf die ich eingehen möchte. Alle sind zum Gottesdienst eingeladen – auch jene, die damals keine besondere gesellschaftliche Beachtung fanden, wie Kinder, Greise, Frauen und Fremde. Es war kein üblicher Opfergottesdienst im Tempel, an dem nur ein kleiner Kreis von Juden – ausschließlich Männer – an einem bestimmten Kultort teilnehmen konnten. Hier war eine große jüdische Versammlung an einem Verkehrsknotenpunkt, nämlich „am Wassertor“, zusammengerufen „Männer und Frauen und überhaupt alle, die schon mit Verstand zuhören konnten“. Die Opferlosigkeit des Gottesdienstes war für den alten Orient einmalig, denn bis dahin wurde jeder Kontakt zu Gott von einer Kulthandlung begleitet. Eine weitere Besonderheit ist auch, dass mehrere Menschen an dem Gottesdienst mitwirken. Dieses Faktum unterschlägt die Leseordnung leider. Neben Esra standen: „Jeschua, Bani, Scherebja, Jamin, Akkub, Schabbetai, Hodija, Maaseja, Kelita, Asarja, Josabad, Hanan und Pelaja, die Leviten, erklärten dem Volk die Weisung“ (Neh 8,7).
Bei dieser vom Volk erbetenen Gottesfeier liegt die Verantwortung bei Laienkräften, während der Tempel von den Priestern verwaltet wurde und Ort eines hierarchisch-sakralen Gottesdienstes war, der vom Hohepriester zelebriert wurde und bei dem das Volk in verschiedenen Vorhöfen in gebührlicher Distanz zu den Vorgängen im Heiligtum gehalten wurde.
Wir dürfen dem heutigen Lesungstext entnehmen, dass Wortgottesdienste keine Entwicklung der Neuzeit sind, sondern eine lange biblische Tradition haben. Sie sind also keine Anbiederung an den Zeitgeist, nicht Notlösung eines Priestermangels oder eine Showbühne für Frauen mit Geltungsdrang, sondern eine Jahrhunderte alte liturgische Praxis und eine Weisung Moses.
Papst Franziskus hat den heutigen Sonntag im Jahreskreis 2019 zum Bibelsonntag ausgerufen. Ob er dabei den heutigen Lesungstext im Auge hatte – ich weiss es nicht – es war jedenfalls auch das Lesejahr C, also des Lukasevangeliums.
Die Leute haben damals ihre Erwartungen nicht an den Priester Esra geknüpft, sondern an das Wort Gottes. Kein Priester wird alle Erwartungen erfüllen, Gott selbst wird es tun. Und er tut es durch die Wirkung seines Wortes. Priester sind keine Wunderwuzzis,, keiner kann alles und nur in geteilter Verantwortung für das Wort Gottes kann ein Leben im gelobten Land gelingen. Nur eine gemeinsame Auslegung des Wortes kann dem profanen Menschenleben gerecht werden. „Wer Ohren hat zum Hören, der höre!“ sagt Jesus (Lk 8,8). Wer hören will, fängt an zu verstehen, wird betroffen und fühlt sich persönlich angesprochen. Das Wort Gottes wurde auch für Jesus im heutigen Evangelium zum Motor eines Veränderungsprozesses. Wer eine echte Sehnsucht nach Erneuerung hat, der kann nicht anders, als immer wieder die Rückbindung beim Wort Gottes zu suchen.
Der Schlussauftrag für den Wortgottesdienst ist: „Nun geht, haltet ein festliches Mahl und trinkt süßen Wein! Schickt auch denen etwas, die selbst nichts haben; denn heute ist ein heiliger Tag zur Ehre unseres Herrn. Macht euch keine Sorgen; denn die Freude am HERRN ist eure Stärke. …Da gingen alle Leute weg, um zu essen und zu trinken und auch andern davon zu geben und um ein großes Freudenfest zu begehen; denn sie hatten die Worte verstanden, die man ihnen verkündet hatte.“
Das Wort soll in freudvoller Stimmung zur Umsetzung bei Ausgegrenzten und Armen kommen. Es hat mit mir zu tun, mit meinem Handeln und Denken. Die heutige Lesung zeigt uns deutlich, dass auch mit nicht eucharistischen Gottesdiensten der Hunger von Menschen gestillt werden kann.
Wenn Sie den Text der 1. Lesung aus dem Buch Nehemía anhören möchten:
Wenn Sie den Text der 2. Lesung aus dem ersten Brief des Apostel Paulus an die Gemeinde in Korínth anhören möchten:
Wenn Sie den Text aus dem heiligen Evangelium nach Lukas anhören möchten:
3 Kommentare zu “Belebende Kraft des Wortes 1. Lesung: Neh 8,2-4a.5-8.8-10|2. Lesung: 1 Kor 12,12-31.|Evangelium: Lk 1,1-4;4,14-21”
Wenn sogar Kinder den Herrn, unseren Gott, fürchten sollen, wie es in der obigen Lesung steht,
Wie sollen diese Kinder und auch wir Erwachsene gleichzeitig an einen gültigen Vater glauben?
Ihr Plädoyer für mehr Wertschätzung des Wortgottesdienstes finde ich unterstützenwert. Vor allem das alttestamentliche Vorbild müsste doch jeden zu logischen Schlussfolgerungen hinführen und aufzeigen, warum viele Gläubigen im Wort Gottes so wenig Trost, Halt und Führung finden.
Bibellabor übernimmt da auch eine wichtige Aufgabe, denn die Messliturgie deckt weder den Bedarf ab noch erreicht sie die Menschen in der heutigen Zeit formal und inhaltlich ausreichend. Wenn die Betonung vor allem auf der Realpräsenz Christi im Sakrament liegt, muss ich IHN doch erst einmal „kennen“ und lieben, bevor ich mich dankbar angesprochen fühle und mit Hingabe und Nachfolge reagieren kann.
In wissenschaftlich herausfordernden Zeit wie heute ist es besonders wichtig, dass das „Wort Gottes“ auch mit der Vernunft kompatibel ist, denn die Gnade baut auf der Natur auf, wie die Dogmatik sagt. Deshalb braucht es im „Leib Christi“ solche Menschen wie Esra, Nehemia ect., die mit dem Charisma des Lehrens wirken sollen.
Allein schon hinsichtlich der unterschiedlichen Bibelübersetzungen sind aufklärende Hinweise notwendig.
Z. B. hat das alttestamentliche „Gott-Fürchten“ nichts mit Angst und Furcht im umgangssprachlichen Sinn zu tun, sondern meint „Ehrfurcht“ haben, was ein wesentlicher Bestandteil jeglicher Art von Liebe sein muss.
Schätzen wir einander in diesem Sinne!
Ich denke, sehr geehrte Frau Pfanner, dass wir zu schnell das Wort Furcht in der Bibel mit unserem eingeprägten Bild der Angst gleichsetzen. Wie schon Antoine de Saint-Exupéry im Buch „Der kleine Prinz“ formuliert hat: „Die Sprache ist Quelle von Missverständnissen“ und erst recht Übersetzungen. Nicht umsonst gilt im Islam der Koran nur in der arabischen Sprache als authentische Fassung und die Heiligen Schriften im Judentum nur in der hebräischen Sprache. Der Text des Buches Deuteronomium wurde im Hebräischen verfasst. Einer Sprache, bei der die Begriffe nicht so trennscharf abgegrenzt werden können, wie z.B. in der deutschen Sprache. Der Sinn und die Bedeutung eines Wortes erschließen sich erst im Kontext. Zusätzlich liegt dem Ersten Testament ein durchgängiger Dualismus zu Grunde. Das eine erhält seine Bedeutung erst durch das andere – durch ein Gegenüber: Gott durch die Erschaffung des Menschen, die Nacht durch den Tag, der Mann erst durch die Frau. Dieser Dualismus prägt auch die Gegenüberstellung von weltlichen Herrschern und dem HERRN. Der damals beabsichtigten Furcht vor einem weltlichen Herrscher wird die Furcht vor Gott gegenübergestellt. Und ich sehe diese Furcht vor dem HERRN – wie Frau Chibesakunda es in ihrem Kommentar schon vorweggenommen hat – als Ehrfurcht haben, vor einem HERRN, der für den Menschen ein gelingendes Leben wünscht. Aus dieser Fürsorge heraus, hat er den Menschen auch die Zehn Worte gegeben, sein Volk aus der Sklaverei geführt und ist mit ihm den mühsamen Weg ins gelobte Land gegangen. Ehrfurcht meint hohe Achtung, achtungsvolle Scheu, Respekt vor der Würde, Achtung vor der Erhabenheit und ich meine, es geht um diese Haltung, die dem HERRN entgegengebracht werden soll.