Bibel hören – lesen – leben Eine Besinnung auf die Dynamik der Schrift von Walter Kirschläger
Es war eine gut nachvollziehbare Idee der österreichischen Bischöfe, das Erscheinen der revidierten Einheitsübersetzung mit drei Jahren zur Besinnung auf die Heilige Schrift zu verbinden. Der auf drei liturgische Jahre entfaltete Dreischritt „hören – lesen – leben“ bietet dazu einen bibelbezogenen Rahmen.
Die Bibel hören …
Nach dem Zeugnis des Nehemiabuches ist das Hören des Gotteswortes aus der Schrift ein epochales Glaubensfest. „Vom frühen Morgen bis zum Mittag las Esra“ dem Volk aus der Weisung des Herrn „in Abschnitten vor und gab dazu Erklärungen“ (Neh 8,3.8). Das Hören der Weisung Gottes wird durch ein Lobgebet eingeleitet, welches das ganze Volk durch sein feierliches „Amen“ bestätigt (Neh 8,5–6). Unschwer sind die noch heute üblichen Strukturelemente der liturgischen Verkündigung aus der Schrift erkennbar: Wir stehen in einer sehr langen Kontinuität des (gemeinsamen) Hörens auf Gottes Rede in der Schrift.
„Hören“ umschreibt das empfangende Pendent zu „Sprechen“. Gottes Sprechen umschreibt mehr als einen wörtlich so bezeichneten Vorgang. Deswegen kann auch ein bloß akustisches Hören nicht genügen. Gottes Rede in der Schrift ist Umschreibung seiner gesamthaften kommunikativen Zuwendung zum Menschen. Es ist bezeichnend, dass diese bildhaft als Gottes Wort bezeichnet wird, die das Hören erforderlich macht.
Das Hinhören auf das Gotteszeugnis der Bibel steht am Beginn jeder Glaubenspraxis. Das Konzil stellt diese Haltung allem anderen voran, wenn es das Offenbarungsdokument mit der Wendung eröffnet: „Gottes Wort voll Ehrfurcht hörend …“ Erst auf dieser Grundlage kann jene tiefgreifende Gemeinschaft entstehen, von welcher der Konzilstext auf der Grundlage von 1 Joh 1,2–3 spricht: Gemeinschaft untereinander und mit dem dreifaltigen Gott.
Dieses Hören braucht Sammlung, Konzentration und (innere) Stille, damit das „sanfte, leise Säuseln“ nicht untergeht, hinter dem sich vorzugsweise die Anwesenheit Gottes verbirgt (vgl. 1 Kön 19,12). Es braucht die Überzeugung, dass in der vorliegenden Schriftensammlung Gott selbst mit am Werk ist und wir mehr und anderes hören als nur eindrucksvolle Texte aus der Antike. Denn es geht um Wort Gottes in Menschenwort. Nur in dieser menschlichen Hülle ist es für uns hörbar.
Wer immer beauftragt ist, das Wort der Schrift anderen Menschen vorzutragen, wird gut beraten sein, sich der besonderen Verantwortung bewusst zu sein: der Verantwortung für korrekten und verständlichen Vortrag und der Herausforderung, Buchstabe und Geist des Bibeltextes überzeugend zu vermitteln.
Die Bibel lesen …
Der Lesevorgang erschließt uns den modernen, heutigen Zugang zur Heiligen Schrift: Abgesehen vom liturgischen Zusammenhang ist das (persönliche) Lesen die gängige Form der Beschäftigung und der Aneignung der Schrift. Die Möglichkeit dazu verdanken wir vielen biblischen Personen, die ihre Erfahrung mit Gott und mit seinem Wirken und ihr Nachdenken darüber nicht nur mündlich weitergaben, sondern sie niederschrieben. Natürlich ist damit die Absicht des generationenübergreifenden Bestandes dieser Glaubensreflexion und dieses Zeugnisses ausgedrückt: „Zum Heil aller Völker“ und „für alle Zeiten“ sollte die Kunde vom Gottesgeschehen erhalten und weitergegeben werden (2. Vatikanisches Konzil, Offenbarungsdokument Nr. 7). Wir lesen also Gottes Rede und über Gottes Handeln. Um dies zu verschriftlichen, hat Gott Menschen in Dienst genommen, sodass sie mit Gott gemeinsam als Autorinnen und Autoren dieser Schriften gelten können (ebenda 11).
Es ist ein einzigartiger Lesestoff, in dem uns der handelnde Gott und die betroffenen Menschen gemeinsam entgegentreten, verbunden durch die Lebensdynamik dieses Gottes, die wir als „Geistkraft“/„Heiliger Geist“ benennen. Da mag es nicht wundern, dass die Buchstaben-, ja sogar die Sprachwelt für die inhaltliche Fülle nicht ausreicht, sondern das Wesentliche, die Kernaussage, sozusagen zwischen den Zeilen steht, eingekleidet in die literarischen Figuren und Ausdrucksformen von längst vergangenen Sprach- und Kulturepochen.
„Verstehst du auch, was du liest“, fragt daher schon deswegen zu Recht Philippus den äthiopischen Kämmerer angesichts dessen biblischer Reiselektüre (Apg 8,30). Die Frage ist bis heute aktuell. Bibellesen ist nicht Zeitunglesen. Wer sich mit den geschriebenen Worten begnügt und nicht versucht, nach dem dahinterstehenden Sinn zu fragen, betrügt sich um die tiefgehende Dimension des Leseinhalts. Deswegen sind Konzentration, Hilfestellung, Besinnung und Gebet angesagt – alles im Lebensraum der christlichen Kirchen und Gemeinschaften in reichem Maße zugänglich. Dass vier oder sechs oder mehr Augen und Gehirne mehr im gelesenen Text begreifen als ein einzelner Mensch, ist eine Erfahrungstatsache. Bibellesen in Gemeinschaft oder Austausch darüber kann wegweisend und verstehensfördernd sein.
Die Bibel leben …
Denn die Aufnahme des Wortes der Schrift zielt darauf, den lesenden/hörenden Menschen erneut oder weiter zu Gott hinzuführen. In seiner Beziehungsabsicht gegenüber dem Menschen ist dieser Gott die Mitte der Bibel. In Jesus Christus hat er seine Anrede an uns zur Person verdichtet (vgl. Joh 1,1–18), damit wir sein Wort nicht nur hören, sondern (er)leben und deswegen leben können. Nach Lukas ist es der Auferstandene selbst, der uns die Schrift erschließt (Lk 24,32.45). Frei nach A. de Saint-Exupéry: Frau oder man hört und liest nur mit dem Herzen gut … So aufgenommen kann dieses Wort im Hören zum Glauben, im Glauben zur Hoffnung, in der Hoffnung zur Liebe führen (Offenbarungsdokument Nr. 1).
Walter Kirchschläger, Em. Professor für Neues Testament, Luzern
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort – Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 4/19 publiziert worden.