Bis an die Grenzen der Erde – Von einer Kirche ohne Grenzen Walter Kirschschläger zur Apg 1,8
„Es scheint, meine Mitbrüder, die Kardinäle, sind fast bis ans Ende der Welt gegangen, um ihn [einen neuen Bischof für Rom] zu holen.“ Mit diesen Worten vom Balkon des Petersdomes hat Bischof Franziskus vor fünf Jahren eine entscheidende Eigenschaft unserer katholischen Kirche ins Bewusstsein gerufen: Sie ist nicht auf Nationen oder Kontinente beschränkt, sondern umspannt die gesamte Erde: „Katholisch“ – ursprünglich: alle(s) umfassend. Dass das etwas mit (behaupteter) Rechtgläubigkeit zu tun haben könnte, ist eine spätere Bedeutungsentwicklung nach der Reformation.
Der Weg Jesu
Vor allem der Evangelist Lukas versucht, seiner Darstellung der Jesusbewegung und der Entwicklung der nachösterlichen Kirche eine umfassende Gestalt zu geben. Dabei legt er ein geographisches Weg-Schema zugrunde. Das Wirken Jesu beginnt nach Taufe und Versuchung (Lk 3,21-22; 4,1-13) mit einem programmatischen Auftritt in Nazaret (Lk 4,16-30). Nach einem Sabbat in Kafarnaum „verkündete [Jesus] in den Synagogen Judäas“ (Lk 4,44) – ein etwas weit gesteckter Rahmen, den Lukas in der Folge auf Galiläa einschränkt. Mit der feierlichen Hinwendung nach Jerusalem (Lk 9,51) erhält die Ausbreitung der Botschaft Jesu eine präzise Richtung. Mit großer Intensität beschreibt der Evangelist durch 10 Kapitel (Lk 9,1 bis 19,28) den Weg der Jesusgemeinschaft hin zu dieser Stadt. Sie ist das durch Jahrhunderte gewachsene und geprägte Zentrum des Glaubens an den einen Gott Israels, der auch der Gott Jesu und der Menschen um ihn ist. Für den Evangelisten ist diese Stadt Ort der Erfüllung von Sendung und Schicksal Jesu. Mit seinem Tod und durch seine Auferstehung wird Jerusalem zum ersten Zentrum für die Jüngerinnen und Jünger. Aber schon in einer testamentartigen Rede vor der Aufnahme Jesu in den Himmel zeigt sich, dass diese Stadt nicht das Ziel der Verkündigung ist, sondern einen entscheidenden Wendepunkt markiert: „Ihr aber bleibt in der Stadt, bis ihr mit der Kraft aus der Höhe erfüllt werdet“ (Lk 24,44-49, Zitat 49).
Die Entwicklung der Kirche
Dieser Auftrag des Auferstandenen bildet den Übergang und das Bindeglied von der vorösterlichen Nachfolgegemeinschaft Jesu zur nachösterlichen Bekenntnisgemeinschaft zu Jesus Christus – eine Entwicklung, die Lukas in der Apostelgeschichte darstellt. In der aus Lk 24,47-49 zitierten Anweisung kommen erstmals bei Lukas ausdrücklich „alle Völker“, also der Schritt in die Vielfalt der Religionen und Kulturen, in den Blick (Lk 24,47, ähnlich Mt 28,19 sowie schon Gal 1,16). Diese Weisung bildet das Scharnier zum Anfang der Apostelgeschichte. Dort wird mit ähnlichen Worten das inhaltliche Programm vorgestellt: „… und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde“ (Apg 1,8).
Lukas folgt diesem Aufriss. Mit der Geistbegabung am Pfingsttag (Apg 2,1-11) beginnt aus seiner Sicht das Leben der Kirche in der Bezeugung von Tod und Auferstehung Jesu und der damit verbundenen Ermöglichung der Taufe als Zeichen der Umkehr und der Vergebung der Sünden (Apg 2,32.38). Nach Verkündigung und Tod des Stephanus (Apg 7) führt die ausbrechende Verfolgung zu einer Ausbreitung nach „Judäa und Samarien“, mit der Bekehrung des Paulus (Apg 9) beginnt der Weg zu den Völkern: Kleinasien – Griechenland – schließlich auf eigentümliche Weise: Rom. Mit der Ankunft des Paulus im Zentrum der antiken Welt und mit dem Hinweis auf die dort mögliche Verkündigung „mit allem Freimut, ungehindert“ (vgl. Apg 28,16-31, Zitat 31) kann Lukas seine Darstellung abschließen: In einem gewissen Sinn hat die Kirche die gesamte damalige Welt erreicht.
Eine welt-weite Kirche
In verschiedenen Formen ist es seither so geblieben. Zu Beginn der Neuzeit gelingt der Schritt auf neue Kontinente. Rom bleibt das unangefochtene Kirchenzentrum. „Alle Wege führen nach Rom.“ Das Zweite Vatikanische Konzil bringt auch in diesem Punkt eine Wende. Einheimische Kirchenstrukturen werden errichtet. In anderen Kontinenten werden nach Bischöfen auch einheimische Kardinäle ernannt. Auf den Bischofssynoden gewinnen die Stimmen anderer Kontinente an Gewicht. Der Bischof von Rom ist weltweit unterwegs. Zugleich endet mit Bischof Franziskus und nach seiner Absicht der Rom-Zentrismus der Katholischen Kirche.
Was bereits bei Paulus zu lernen wäre (vgl. 1 Kor 1,2; Gal 1,3 u. ö.), tritt stärker in den Vordergrund: „Kirche“ ist in der Mehrzahl zu denken, weil Kirche jeweils vor Ort verankert ist und als solche in Gemeinschaft mit anderen Ortskirchen steht. Verantwortung wird von der bisherigen Kirchenzentrale Rom „nach unten“ delegiert. Bischofskonferenzen und Bischöfe, aber auch Pfarrleitungen müssen eigenverantwortlich entscheiden. Ehefragen sind dafür nur ein erstes, vielfach als mühsam erlebtes Beispiel. Die Katholische Kirche wird weltumspannend, die Idee einer gemeinschaftlichen Kirche, von Ortskirchen in Gemeinschaft, wird stärker prägend. Was vielfach noch als Traum erscheint, wird morgen Kirchenwirklichkeit sein. In Wahrheit ist es eine Besinnung auf die Anfänge.
Kirche ohne Grenzen
Die gewonnene Weite hat Folgen für die Inhalte. Kircheneinheit – innerkatholisch und darüber hinaus – bedeutet nicht (mehr) autoritätsgeprägte Vereinheitlichung, sondern Einheit in der Vielfalt von Theologien, Kontinenten und Kulturen. Der Abbau von Grenzen bedeutet keine Beliebigkeit, sondern gemeinsame Verantwortung für das allen gemeinsame Christusbekenntnis. Für manche mag das nur eine Vision sein; streng genommen ist es die Fortsetzung des Weges, den Lukas mit seinen Schriften eingespurt hat.
Zur Vertiefung empfiehlt sich die Lektüre der angegebenen Bibelstellen und/oder die begleitende Betrachtung eines Globus.
Walter Kirchschläger, Em. Professor für Neues Testament, Luzern
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort – Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 3/18 publiziert worden.