Die Nacht ist vorüber …. Gedanken zu Psalm 30 von Christian Kopf
Jeden Morgen erblicken wir neu das Licht der Welt. Wie gehe ich hinein in den neuen Tag? Das Vorzeichen, mit dem ich einen Tag beginne, kann einen Weg weisen.
Es fasziniert mich, dass das jüdische Morgengebet – Schacharit – mit dem Psalm 30 beginnt. Mit diesem „Danklied des Einzelnen“ (Erich Zenger) erinnert und vergegenwärtigt sich der Betende eine Haltung der Verbundenheit und der lebendigen Beziehung zu JHWH, die alle Seiten des Lebens umfasst. Neunmal finden wir in diesem recht kurzen Psalm das Tetragramm JHWH.
Die Nacht – Symbol der Dunkelheit und Bedrohlichkeit des Lebens – ist überwunden und der Betende setzt zum Lobpreis an, indem er rettende und befreiende Erfahrungen zur Sprache bringt. Er bezieht die Gemeinschaft anderer ein (v5) und vergisst nicht, wie er in schweren Zeiten zu Gott schrie (v3.9.11) und in guten Zeiten in eine oberflächliche Selbstsicherheit und Selbstzufriedenheit verfiel (v7). Die Verherrlichung JHWHs ist Folge und Konsequenz von erlebter Rettung aus den unterschiedlichen Gefährdungen des Alltags. Ich kann diese Gefährdungen innerlich wie äußerlich erleben – seelische Belastungen und Infragestellungen bedrohen genauso wie Anfeindungen und Ausgeliefertsein in persönlichen oder beruflichen Kontexten unsere Lebendigkeit.
Mit dem Psalm 30 beginnt eine Reihe von Psalmen (bis Ps 41), die in vielfältiger Weise das Thema „Tod und Rettung aus Ausweglosigkeit und Lebensgefahr“ zur Sprache bringen.
Not, Bedrängnis, Krankheit, Konflikte, Feindschaft und andere bedrohliche Erfahrungen lassen erahnen, was „Reich des Todes“ (v4) meint: wir erleben uns „wie im Grab“ (v4.10) und Ohnmachtsgefühle machen sich breit. Die Frage nach Gott stellt sich neu. Erschrecken, Angst, Klage und Tränen sind Ausdruck der Tiefe und Abgründe (v2), in die uns das Leben oder andere Menschen werfen können. Die Krise der Gottesbeziehung nimmt der Psalmist auf: Solche Lebensereignisse können als „Zorn“ (v6) oder als „Verborgenheit“ (v8) Gottes – Martin Buber übersetzt mit „du versteckst dein Antlitz“ – erlebt werden. Alles kommt ins Wanken, so dass uns das Wasser bis zum Hals reicht. Der Psalmist erinnert sich, dass Gott ihn wie einen Schöpfeimer aus dem Grundwasserbrunnen gezogen hat (vgl. v2). In starken Bildern zeichnet der Psalm die schweren, aber auch guten Zeiten des Lebens und bringt sie mit JHWH in Verbindung. JHWH lässt sich anrühren und ansprechen. In nüchternen, klagenden Worten der Verzweiflung fleht der Betende, um Gott (!) quasi daran zu erinnern, dass nur der lebendige Mensch sich zu ihm bekennen kann (v10). ER erweist sich als Gott, der herausholt bzw. emporzieht, neue Lebendigkeit schenkt und befreit. So wandelt sich Klage in Tanz und die Tränen am Abend werden zu Jubel am Morgen. Die erlebte Zuwendung Gottes eröffnet neue Lebendigkeit (vgl. Jes 54,7f). Psalm 126 liest und betet sich als wunderbare Ergänzung zu diesem „Morgenpsalm“. Aus den Erfahrungen der verwandelnden Erlösung wächst Dankbarkeit. Viermal wird dies in Psalm 30 in den Versen 2, 5, 10, 13 angesprochen, denn „danken“ ist auch mit „erheben, (lob)preisen, rühmen“ übersetzbar. Eine Haltung, nicht nur für den Augenblick, sondern für das ganze Leben – „auf Weltzeit“ übersetzt Martin Buber den letzten Vers. Diese Haltung gegenüber Gott und dem Leben ist Nährboden für Lebenskraft und Lebensmut trotz aller Widrigkeiten, die uns das Leben zumutet.
In der christlichen Tradition wurde Psalm 30 mit seinen Bildern vom Herausreißen aus der Todesnot mit dem österlichen Geheimnis verbunden: „Christ ist erstanden von der Marter alle; des solln wir alle froh sein“ (GL 318 und GL 323).
Die Einladung, Psalm 30 am Morgen wie unsere jüdischen Schwestern und Brüder zu beten, ist ausgesprochen. Spannend wäre ein Austausch mit Ihnen, welche Erfahrungen Sie damit machen!
Christian Kopf
Leiter des Bildungshauses Batschuns, Mitglied des Freundeskreises Werk der Frohbotschaft Batschuns, Rankweil
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort – Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 3/18 publiziert worden.