Die sichtbare Seite Gottes Helga Kohler-Spiegel zur An- und Abwesenheit der Engel in den Evangelien
In der Vorweihnachts- und Weihnachtszeit sind Engel besonders präsent. In der Bibel der Juden und der Christen ist überliefert, dass der Mensch Gott selbst nicht sehen kann. So sind Engel die „sichtbare Seite Gottes“, sie begegnen den Menschen und bringen wichtige Botschaften. Die Bibel erzählt von verschiedenen Möglichkeiten, wie sich Gott den Menschen zeigt, zentral dabei sind Engel. So bringen Engel auch in den Evangelien die Frohe Botschaft Gottes: Sie tauchen bei der Ankündigung der Geburt Jesu an Maria auf (Lk 1,26–38). Sie tauchen auf, wenn Josef im Traum verstehen soll, was in dieser schwierigen Situation zu tun richtig ist (Mt 1,18–25). Sie tauchen auf, wenn die Hirten die Botschaft von der Geburt des Messias hören (Lk 2,8–15). Und sie tauchen nach Jesu Ermordung und seiner Auferstehung auf, wenn die Frauen ans Grab kommen und den Leichnam Jesu suchen (Mk 16,1–8 par). Sie zeigen „die sichtbare Seite Gottes“, sie machen die Botschaft Gottes deutlich, sie verkünden: „Fürchtet euch nicht, habt keine Angst!“ Und: „Große Freude!“. Dies ist die Botschaft von Weihnachten und von Ostern. Der Gott der Bibel verspricht den Menschen kein einfaches und unkompliziertes, leider auch kein leidfreies Leben, aber ein begleitetes Leben – ein Leben mit weniger Angst, denn der Name Gottes lautet: „Ich werde da sein, wie ich da sein werde.“
Zurück zu den Engeln: Vielleicht ist es Ihnen schon aufgefallen: Während des Auftretens Jesu, während seines Weges durch Galiläa bis Jerusalem, während seiner Taten und Worte kommen keine Engel für die Menschen vor. Während der Lebenszeit Jesu sind Engel für Jesus da, sie stärken, begleiten, trösten ihn. Engel kommen in den Worten Jesu vor, auch dort manchmal neutral, manchmal bestärkend und tröstend, manchmal als Mächte im Blick auf das Ende der Zeit.
Während des Lebens und Wirkens Jesu begegnen den Menschen keine Engel. Denn: Wenn Engel „die sichtbare Seite Gottes“ sind, dann braucht es in der Zeit, in der Jesus als „diese sichtbare Seite Gottes“ unter den Menschen weilt, keine Engel. Christinnen und Christen glauben, dass in Jesus Gott selbst sichtbar wird, dass in der Art, wie Jesus gelebt hat und gestorben ist, dass in der Person Jesu sichtbar ist, wie Gott selbst ist. Und deshalb braucht es in dieser Zeit keine Engel.
Zwei Evangelien, Matthäus und Lukas, überliefern sogenannte Geburts- und Kindheitsgeschichten Jesu. Im Lukasevangelium steht Maria im Mittelpunkt der Erzählung, der Engel Gabriel wird zu Maria gesandt, um die Geburt Jesu anzukündigen. Oft wird überlesen, dass uns hier eine Prophetenberufung überliefert ist. Die Berufung von Propheten läuft in der Bibel nach einem vorgegebenen Muster ab: Der Prophet wird angesprochen, von Gott selbst oder von einem Engel als die sichtbare Seite Gottes. Der Mensch antwortet, Gott bzw. der Engel verkündet den Auftrag. Der Mensch widerspricht diesem Auftrag und zweifelt, dass es möglich sei, diesen Auftrag Gottes zu erfüllen. Darauf folgt ein Zeichen Gottes/des Engels zur Bestätigung, dass für Gott alles möglich sei. Und dann bestätigt der Prophet: „Ja, ich bin Knecht Gottes“. So auch bei Maria, zur Bestätigung sagt sie: „Ja, ich bin Knechtin Gottes“. Wie der männliche Prophet „Knecht Gottes“ genannt wird, wird die weibliche Prophetin „Magd Gottes“ genannt. Maria wird nach biblischem Muster zur Prophetin berufen. Vielleicht mögen Sie den Text wieder einmal lesen: Lk 1,26–38.
Anders und doch ganz ähnlich kommen Engel am Beginn des Matthäusevangeliums vor: Wie in einer Ouvertüre werden die Bedeutung und die Gefährdung Jesu gleich am Beginn sichtbar. Und immer sind es Engel, diese „sichtbare Seite Gottes“, die Josef begleiten und ihm helfen zu verstehen, was da vor sich geht und was jetzt zu tun richtig ist: In Mt 1,20 erklärt ein Engel Josef im Traum die Herkunft von Jesus. In Mt 2,12 befiehlt ein Engel auch den Sterndeutern im Traum, nicht zu Herodes zurückzukehren. In Mt 2,13 fordert ein Engel Josef im Traum auf, mit seiner Familie nach Ägypten zu fliehen. Und in Mt 2,20 bringt ein Engel Josef im Traum die Nachricht, dass er mit seiner Familie nach Israel zurückkehren kann. Mithilfe der Engel führt Gott selbst Josef und seine Familie. Vielleicht mögen Sie auch diesen Abschnitt wieder einmal lesen: Mt 1,18–2,23.
Engel begleiten den Weg Jesu, Engel begleiten den Weg der Menschen. Vor Jesu Geburt und nach seinem Tod sind es Engel, die den Menschen die Frohe Botschaft bringen, die den Weg zeigen, den Blick öffnen und die Vorgänge zu verstehen helfen. Während des Lebens Jesu braucht es für die Menschen keine Engel, keine „sichtbare Seite Gottes“, weil Gott in Jesus selbst sichtbar ist. Die frühesten Bekenntnisse machen dies deutlich: In Jesus wird sichtbar, wie Gott zu den Menschen, zu uns Menschen ist. Und alle Christinnen und Christen sind eingeladen, auch selbst so zu leben wie Jesus. Dann können Menschen einander zum „Engel“ werden, oder wie Rudolf Otto Wiemer schreibt:
„Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein,
die Engel.
Sie gehen leise, sie müssen nicht schrein,
oft sind sie alt und hässlich und klein,
die Engel.
Sie haben kein Schwert, kein weißes Gewand,
die Engel.
Vielleicht ist einer, der gibt dir die Hand,
oder er wohnt neben dir, Wand an Wand,
der Engel. […]“
(aus: Wiemer: Es müssen nicht Männer mit Flügeln sein. Geschichten und Gedichte zur Weihnachtszeit, Quell Verlag Stuttgart 1993)
Helga Kohler-Spiegel, Professorin an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg, Feldkirch
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort – Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 1/20 publiziert worden.