Ehrlichkeit und Selbstkritik 1. Lesung: Sir 35,15b-17.20-22a| 2. Lesung: 2 Tim 4,6-8.16-18| Evangelium: Lk 18,9-14
Das Christentum hat zahlreiche jüdische Feiertage des Judentums übernommen, diese theologisch und rituell umgedeutet beziehungsweise angereichert. An den längsten Tagen des Jahres feiern die Juden das Lichterfest Chanukka, wir Christen feiern Weihnachten. Wenn die Juden Pessach und der Befreiung aus der Knechtschaft gedenken, freuen wir uns über die Auferstehung Christi. An Schawuot erinnern sich die Juden an die Gabe der Tora und wir Christen zu Pfingsten an die Gabe des Heiligen Geistes. Für den höchsten Feiertag des Judentums im Herbst, Jom Kippur, dem großen Versöhungstag, gibt es keine Analogie im Christentum. Warum ist das so? Das heutige Evangelium führt uns an die Antwort heran.
Das Evangelium erzählt uns etwas über die Gebetsweise eines Pharisäers und eines Zöllners. Zur Zeit Jesus kannte das Judentum nur zwei Formen des Gebetes: Das gemeinschaftliche Gebet in der Synagoge oder zu Festtagen im Tempel mit der Rezitation von Psalmen, und das persönliche selbstformulierte Gebet als Stoßgebet, wie es Jesu im Garten Gethsemane sprach. Diese damals üblichen Formen des Gebetes können wir bei den zwei Protagonisten erkennen. Der Pharisäer, der fromme und gesetzestreue Jude spricht ein Gebet, dass sich an Psalm 26 orientiert. Der Zöllner spricht ein frei formuliertes Stoßgebet – ein Gebet des Alltags, das üblicherweise nicht im Tempel gesprochen wurde. Man ging in den Tempel um zu opfern, um in Gemeinschaft zu beten, aber nicht für persönliche Gebete.
Auch die beschriebene Gebetshaltung der beiden Männer gibt uns Aufschluss. Der Pharisäer nimmt die übliche jüdische Gebetshaltung ein. Er steht aufrecht vor Gott. Das Judentum kennt kein Niederknien und keine gebückte Gebetshaltung mit Ausnahme eines einzigen Tages: Am Jom Kippur fällt man vor Gott nieder, man beugt sich vor Gott und schlägt sich mit der Faust auf die Brust – wie unser Zöllner. Jom Kippur ist der große Versöhnungstag zwischen Gott und dem Menschen. An den Vorbereitungstagen sollen alle Verfehlungen gegenüber Mitmenschen sowie Streitigkeiten beigelegt werden. Die Bitte um Sündenvergebung am Jom Kippur bezieht sich ausschließlich auf Vergehen gegenüber Gott bezüglich der Nichterfüllung von rituellen Pflichten. Als Zeichen des Bekenntnisses der Verfehlungen schlägt man sich an die Brust. Wir verweisen oft als Selbstschutzmechanismus – ähnlich wie der Pharisäer – mit erhobenem Finger auf andere als wahre Schuldige, um diese zu ermahnen und gar anzuklagen. Selbstgerechtigkeit führt oft zur Verurteilung und zum Richten anderer. Am Jom Kippur weisen inmitten der Gemeinde alle fünf Finger zu einer Faust vereint auf das je eigene Individuum. Der fromme Jude sollte also zuerst bei sich selbst beginnen.
Die einfachen Zöllner waren nicht selten verkrachte Existenzen, Langzeitarbeitslose, sie hatten keine Chance auf einen anderen Job. Versenkt in ein Leben in Not konnten sie die Gesetze nicht halten. Auf Grund ihres Kontaktes zu den römischen Besatzern und durch den Umgang mit Geld waren sie so deklassiert, dass sie kaum an einem Gottesdienst teilnehmen konnten. Sie waren im persönlichen Zwiespalt: sie wussten, dass sie gegen das Gesetz verstoßen, waren allerdings auf das Einkomemn angewiesen. Jeder Tag war für sie voll von neuen Versuchungen, auf die Zölle höhere Aufschläge zum eigenen Vorteil einzuheben. In der allgemeinen Wahrnehmung hatten sie weder bei den Menschen noch bei Gott eine Chance.
Lukas greift einerseits bereits auf nachösterliches Wissen zurück, andererseits reflektiert er auch den zerstörten Tempel . Er schreibt für Gemeinden, die darum ringen, welche jüdischen Traditionen beibehalten werden sollen beziehungsweise welche Veränderungen die Jesus-Botschaft von einem verzeienden und barmherzigen Gott mit sich bringen sollte. Der Zöllner hat offensichtlich die Jesus Worte gehört. Er weiss, dass bei der rechten Einstellung jedem Menschen jeden Tag Gottes Barmherzigkeit wiederfahren kann. Um Versöhnung erleben zu können, braucht es keine Formvorschriften mehr, keine fixen Rituale, noch ist sie an den Tempel gebunden. Das Sündenbekenntnis der Menschen und Vergebung ist jederzeit möglich, man muss nicht mehr auf einen speziellen Feiertag warten. Der Aspekt eines Schuldbekenntnisses ist vor dem Hintergrund bedeutend, dass die heidnische Antike keinen Ritus zu Schuldenbekenntnis und Schuldvergebung kannte. Es zeichnet die Qualität von Judentum und Christentum zur damaligen Zeit aus, Erlösung und Befreiung von Schuld zu ermöglichen. Es scheint, als wollte Lukas zum Jesus-Wort „Darum sage ich euch: Bittet und es wird euch gegeben; sucht und ihr werdet finden; klopft an und es wird euch geöffnet“ (LK 11,9-10) ein beschreibendes Gleichnis weitergeben zu wollen.
Die Besitzer der Gerechtigkeit, an die Jesus sein Gleichnis richtete, blicken ebenso hochmütig auf den Nichtbesitzer – den Zöllner – wie in den Gleichnissen der vergangenen Sonntage die Reichen auf die Armen. Im Sinne Jesu ist aber auch hier jeder Bruder und Schwester. Gott ist parteiisch – er ergreift Partei für Leute, für die man vom religiösen und moralischen Standpunkt aus nie Partie ergreifen würde. ER urteilt völlig anders. Bereits in der Lesung aus dem Buch Jesus Sirach: „Er bevorzugt niemanden gegenüber einem Armen, die Bitte eines ungerecht Behandelten wird er erhören“ konnten wir davon hören. Bei Lukas finden wir erstmalig im Gleichnis um die Rangordnung im Reich Gottes (LK 14,11) den Satz „Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden“ sogar zweimal. Nur Gott steht es zu, zu erniedrigen oder zu erhöhen. Er lässt sich da keine Vorschriften machen. Bereits im Buch Exodus (Ex 33,19) wird Gott mit den Worten beschrieben: „Ich bin gnädig, wem ich gnädig bin, und ich bin barmherzig, wem ich barmherzig bin“. Der Zöllner ging gerechtfertigt nach Hause. Der Zöllner hat dem Pharisäer die Ehrlichkeit, die Selbstkritik voraus und ist damit Gott näher als der ehrenhafte Vertreter von Religion und Moral.