Ein Asylort als Königreich 1.Lesung: 2 Sam 5,1-3| 2.Lesung: Kol 1,12-20| Evangelium: Lk 23,35b-43
Bei der heutigen Textauswahl war es offensichtlich eine bewusste Entscheidung, Jesus in die Fußstapfen von König David zu setzen – am letzten Sonntag des Kirchenjahres. In diesen Texten mündet das ganze Lesejahr. Sie stehen an der Schwelle und sollen Auftrag für den beginnenden Advent sein. Warum ist aber gerade an diesem Sonntag die Rückbindung zu David so bedeutend?
Nach dem Tod von König Saul wurde David in Hebron zum König von Juda gesalbt. Er machte Hebron zu seiner ersten Hauptstadt. Von dort aus regierte er sieben Jahre und sechs Monate, bevor Jerusalem sein religiöses und politisches Zentrum wurde. Hebron ist tief mit der Geschichte der Patriarchen verbunden und gilt als wichtiger Ort für Abraham, Isaak und Jakob, die dort begraben sind. Für David waren ihre „Fußabdrücke“ bedeutend, waren ihm Rückbindung und gaben Sicherheit. Seine erste Königsstadt lag abseits der Handelsrouten und Machtzentren und besaß nur lokale Bedeutung. Unbedeutend war die Stadt allerdings keineswegs, denn sie hatte eine wichtige Aufgabe.
Nach dem Einzug des Volkes Israel in das gelobte Land kam es zwischen den zwölf Stämmen zu Gebietsaufteilungen. Den Leviten – dem Stamm des erblichen Priestertums – wurden besondere Städte zugewiesen. Sechs von 48 ihrer Ortschaften, je drei davon östlich und westlich des Jordans, sollten dem Rechtsschutz für Strafverfolgte dienen. Hebron war dabei die bedeutendste und geschichtsträchtigste Asylstadt bzw. Zufluchtsstadt. Die Asylstadt kann als erste historisch bekannte Form eines Rechts auf Asyl bezeichnet werden. Das archaische Sippenrecht sah die Blutrache vor, d.h. Mörder oder Totschläger durften überallhin verfolgt und getötet werden. Die Tora schränkte dieses Vorgehen nach und nach ein. Die Asylorte waren in der Entwicklung ein Meilenstein. Die Lage der Städte war so ausgewählt, dass sie von jedem Punkt in ca. 25 km erreichbar waren. „Die Städte sollen euch als Asyl vor dem Bluträcher dienen, sodass der, der getötet hat, nicht sterben muss, bevor er vor dem Gericht der Gemeinde stand“ (Num 35,12). Mehrheitsgesellschaft in diesen Asylstädten waren die Leviten. Sie galten als moralische Vorbilder und als bürgerliche Bildungsschicht, da sie Lesen und Schreiben konnten. Möglicherweise sollten sie resozialisierend wirken.
Die erste Leitungsaufgabe Davids – mit der er sich zu profilieren hatte – war das Management einer solchen Flüchtlingsstadt. Die Sorge um die Ausgestoßenen und die Gefallenen war seine Schule. In dieser Stadt der Außenseiter wurde er zum König gesalbt. Es war eine Stadt der Extreme – auf der einen Seite Bildungsbürger, auf der anderen Seite Menschen vom Rand der Gesellschaft. Hier musste er sich profilieren.
Die Vielfalt der 12 Stämme zu vereinen, Extreme zusammenführen, einen bunten Haufen von 12 Aposteln zusammenzuhalten – das war die Absicht Jesu. Mit dem neuen Kirchenjahr beginnen wir das Lesejahr A nach Matthäus. Diesem Evangelisten war es ein besonderes Anliegen, im Stammbaum Jesu auf die David-Abstammung hinzuweisen. Auch Jesus verstand sein Königtum als Asylort. Die vielen Gleichnisse und Zeugnisse der Evangelien berichten davon. Ihm ging es um die Integration von Menschen an den Rändern der Gesellschaft. Die vom römischen Lebensstil geprägte Oberschicht rief er dazu auf, die Bedürfnisse der Armen zu berücksichtigen und sich nicht abgehoben in elitäre Zirkel zurückzuziehen. Das Königreich Jesu bedeutet kein Leben in einem Palast, mit Dienerschaft und schwerer Goldkrone auf dem Haupt. Nein es ist Asylort der Ausgestoßenen, der Menschen, die Heimat verloren haben, sich in der Welt nicht mehr zurechtfinden. Sein Eintauchen in die Lebenswelt bedeutet, Leid mitzutragen. Seine Dornenkrone blutet sich ein, als Mitleidserfahrung der leidenden Menschen. Diese Gegensätze beschreibt der Disput der beiden Verbrecher am Kreuz. Der eine verhöhnt die fehlende Macht dieses Königs, der andere sieht sein eigenes Fehlverhalten und glaubt an das Asylrecht. Der eine sieht den klassischen König vor sich, der zuerst an seine eigene Rettung denkt und erst dann an die Rettung der anderen. Der andere erkennt den fürsorglichen Christkönig, der sich zuerst der Ausgestoßenen und Leidenden annimmt. „Dann sagte er: Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst! Jesus antwortete ihm: Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,42-43). Das Reich des Christkönigs ist noch mehr als der erhoffte Ort eines Asyls – es ist das Paradies schlechthin.
Vom heiligen Ignatius von Loyola wird berichtet, dass er vor dem Verlassen Jerusalems die Himmelfahrtskirche aufsuchen wollte. Dort finden sich, einer Legende nach, die eingedrückten Fußspuren Jesu im Moment seiner Himmelfahrt. Ignatius wollte in diesen Fußabdruck stehen, um quasi den Perspektivenwechsel zu erfahren und nachvollziehen zu können, was es bedeutet, von diesem Christkönig in die Welt gesandt zu sein. Willi Bruners versucht dies so einzufangen, indem er meint, dass Jesus seine Jünger eben nicht oberste Posten verliehen hätte oder Ehrentitel, sondern „als er sich von seinen Freunden verabschiedete, gab er ihnen seinen langen Atem“. Dieser nicht aufhörende Atem versucht das Kirchenjahr abzubilden, nicht zuletzt damit, dass zahlreiche Kirchenlieder des Advents das Bild des Königs wieder aufgreifen werden. So etwa „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit; es kommt der Herr der Herrlichkeit, ein König aller Königreich“ oder „O Heiland, reiß die Himmel auf, ihr Wolken, brecht und regnet aus den König über Jakobs Haus“.
Heute ist so etwas wie die Staffelübergabe vom Evangelisten Lukas an Matthäus. Er wird uns nun ein Jahr lang Beispiele des langen Atems Jesu näherbringen.
Wenn Sie den Text der 1. Lesung aus dem Buch Sámuel anhören möchten:
Wenn Sie den Text der 2. Lesung aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Kolóssä anhören möchten:
Wenn Sie den Text aus dem heiligen Evangelium nach Lukas anhören möchten:
In unseren Gedanken zu den Texten der Sonntage haben wir schon öfter auf die Problematik von Textauslassungen hingewiesen. Wir wollen einen Versuch starten und werden ab dem Beginn des neuen Lesejahres die Texte in der Länge der biblischen Verfasser lesen.
Seit Jahrhunderten beeindruckt die Bibel Menschen mit ihren Formulierungen. In der Zeit ihrer Entstehung für jeden verständlich brauchen Leserinnen und Leser von heute eine Übersetzung dieser Texte. Jede Übersetzung ist in gewisser Weise auch eine Deutung der Schrift. Die Einheitsübersetzung ist uns bereits vertraut. Wir wollen bewusst mit Beginn des neuen Kirchenjahres eine andere Übersetzung verwenden, um uns neu von den Texten überraschen zu lassen. Wir haben uns für die Übersetzung der BasisBibel entschieden, die seit Januar 2021 vollständig vorliegt. Die BasisBibel ist die Bibelübersetzung für das 21. Jahrhundert: klare Sprache, kurze Sätze und verständliche Sprache.