Gesichtswahrende Fehlerkultur 1. Lesung: Ez 33,7-9| 2. Lesung: Röm 13,8-10| Evangelium: Mt 18,15-20
Die heutigen Texte wollen uns die Fehlerkultur Gottes beschreiben und sie verdeutlichen, wie sehr Jesus Ausleger der Tora war, wenn er Gleichnisse und Erzählungen vortrug.
In mehreren Kapiteln des Buches Ezechiel wird wiederholt und in je anderen Zusammenhängen erzählt, wie sich Gott zu fehlerhaften Menschen verhält. Die Zusammenfassung ist relativ einfach: „Weder muss der Sohn die Schuld seines Vaters noch der Vater die Schuld seines Sohnes verantworten. Der Gerechte erfährt die Folgen seiner Gerechtigkeit, der Frevler muss die Folgen seiner Bosheit tragen“ (Ez 18, 20). Im heute gelesenen Text erläutert Gott vor diesem Hintergrund dem Ezechiel seinen Auftrag. Er soll jenen Menschen „Wächter“ sein, die mit der eigenen Gewissensprüfung Mühe haben. Er soll den Menschen helfen, die Selbstverantwortung zu erkennen und die Eigenverantwortung für ihr Handeln und Tun zu übernehmen. Heute würde man vermutlich diesen Dienst nicht mehr als Wächteramt bezeichnen, sondern eher als die Aufgabe eines Therapeuten oder Mediators. Noch vor wenigen Jahrzehnten hätten Menschen darin eine eindeutige priesterliche Aufgabe gesehen.
Es ist ein schwerer Dienst, den Gott dem Ezechiel hier überträgt. Wir kennen das aus eigenen Erfahrungen im beruflichen oder ehrenamtlichen Umfeld. Es sind Missstände erkennbar; es gibt Verhaltensweisen, die dem ethischen Kodex einer Einrichtung widersprechen oder es werden Fehler einfach unter den Tisch gekehrt. Verhält man sich so, wie man es den drei Affen zuschreibt: nichts hören, nichts sehen und nichts sagen? Nein, genau so soll es in den Augen Gottes nicht sein. Gott nimmt Ezechiel – einen Propheten – in die Pflicht: er ist berufen, Unrecht und Schuld anzusprechen. Erst dadurch wird oftmals die Gewissenprüfung des Verursachers möglich. Gott anerkennt uns Menschen als fehlerhafte Wesen. Er gibt uns Propheten zur Seite, die uns aufmerksam machen, wenn wir straucheln. Solche Propheten können Eltern, Großeltern, Freunde und Berufskollegen sein. Das ist – wir kennen es – keine angenehme, aber eine bedeutsame Aufgabe. Erst solche – uns wohlgesinnte – Menschen ermöglichen uns manchmal, Fehler zu erkennen und oft stehen uns diese Menschen zur Seite, wenn wir von der falschen Bahn wieder auf die richtige einbiegen wollen.
Missstände anzusprechen, aufzudecken ist kein Vernadern, sondern ein Dienstamt an einem Menschen oder einer Organisation. Dies ist kein leichtes Unterfangen und die mangelnde Fehlerkultur innerhalb der Kirche ist kein Paradebeispiel. All jene mutigen Frauen und Männer, die die Missbrauchsaffären ans Tageslicht gebracht haben, werden ein Lied davon singen können. Umso überraschender ist es, wenn man bei der biblischen Lektüre auf solche Fundstücke stößt, wie im heutigen Evangelium. Jesus predigt von allem Anfang an die Umkehr – das wurde nach seiner Taufe am Jordan durch Johannes den Täufer sein Lebensauftrag. Alle will er mit zu seinem Vater nehmen, für jeden möchte er dort eine Wohnung bereithalten.
Manche Fehler erkennen wir selbst, da liegt es dann an uns, das Verhalten zu ändern oder nicht. Andere Fehler verdrängen wir oder erkennen sie nicht. Da brauchen wir Prophetinnen und Propheten, die ehrlich mit uns sind. Jesus schlägt uns eine sehr wertschätzende und gesichtswahrende Vorgehensweise vor. Zuerst soll der Fehler unter vier Augen angesprochen werden. Es soll zu keinem Gesichtsverlust kommen und es muss auch kein „großes Fass aufgemacht“ werden. Sollte dies nicht fruchten, wird in einer Gruppe von zwei bis drei Menschen die Sache angesprochen. So hat der Verursacher die Chance, unterschiedliche Zugänge zu hören und vielleicht findet ja einer der Zeugen die richtigen und besseren Worte. Ratschläge können nicht immer von allen Menschen gleich gut angenommen werden.
Erst dann, wenn nach zwei Anläufen immer noch keine Einsicht vorhanden ist, soll die ganze Gemeinde davon erfahren. Ist es nicht oft so, dass durch Vernaderung oder Geschwätzigkeit andere eher von Fehlverhalten erfahren als der eigentlich Verantwortliche? Oftmals gibt es eine informelle Vorverurteilung, bevor die betreffende Person überhaupt die Chance auf ein faires Verfahren hatte. Auch in der Missbrauchsaffäre gab es übelste Verleumdungen. Aufarbeitung von Fehlverhalten benötigt also ab einem bestimmten Zeitpunkt Transparenz. Bringt auch ein öffentliches Verfahren keine Einsicht, dann kann ein Täter nicht mehr Teil der Gemeinde sein. Er gilt als Heide oder Zöllner – was für damaligen Verhältnisse bedeutet: er wird als zweifelhafte Person wahrgenommen.
Spannend an den Ausführungen Jesu ist, dass er bei der Herstellung von Recht und Gerechtigkeit bzw. gesellschaftlicher Ordnung nicht auf den Vater im Himmel verweist oder auf eine Gerechtigkeit nach dem Tod. Nein, er nimmt jedes Gemeindemitglied, jede Christin und jeden Christen in die Mitverantwortung. Er spricht damit jedem Menschen und jeder Gemeinschaft das Recht auf Sündenvergebung zu. „Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein“ (Mt 18, 18). Man könnte dies so übersetzen: alle Konflikte, die ihr auf Erden lösen könnt, sind gelöst – da gibt es kein Nachtragen mehr. Alle Fehler, die ihr lösen und beheben könnt, sind gelöst – da gibt es kein Gericht mehr. Das ist Barmherzigkeit und Güte Gottes. Das göttliche Gericht ist nur dort notwendig, wo wir Menschen mit unserer Fehlerkultur scheitern.
Skandale zeigen, dass diese gelitten hat: Aufsichtsgremien versagen, Kontrollinstanzen werden nicht tätig, fehlende Compliance (Verhaltens-) Richtlinien, mangelnde Transparenz und Kontrolle. Wir alle machen Fehler, je größer der zeitliche Druck oder die Anforderungen sind, je eher passieren sie. Gerade nach Corona, durch den Arbeitskräftemangel und den Druck einer hohen Inflation spüren wir alle, dass wir fehleranfälliger geworden sind. Umso wichtiger ist, dass wir eine gute Fehlerkultur pflegen, dass wir uns freundschaftlich aufmerksam machen, wenn wir Fehler erkennen, uns aber auch nicht scheuen, sie bei Nachhaltigkeit und Uneinsichtigkeit vor die Gemeinde zu tragen und öffentlich zu machen. Gerade für die Kirche steht ihre und unsere Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Es ist eigentümlich, welche Intransparenz noch gepflegt wird. Einrichtungen, die in der Zivilgesellschaft nicht mehr wegzudenken wären, wie die Volksanwaltschaft, interne Revisionen oder ein Rechnungshof, gibt es in der Kirche weder in ähnlicher noch in vergleichbarer Weise.
Eine gepflegte Fehlerkultur ermöglicht uns, an unseren Fehler zu wachsen und zu lernen. Intransparenz vergiftet hingegen das Arbeitsklima und ruiniert die Glaubwürdigkeit. Wir sind gerade nicht dazu berufen, Ohren, Augen und Mund zu verschließen, sondern zu Dienerinnen und Dienern an der Gemeinschaft und einer gesichtswahrenden Fehlerkultur.
Wenn Sie den Text der 1. Lesung aus dem Buch Ezéchiel anhören möchten:
Wenn Sie den Text der 2. Lesung aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom anhören möchten:
Wenn Sie den Text aus dem heiligen Evangelium nach Matthäus anhören möchten:
Ein Kommentar zu “Gesichtswahrende Fehlerkultur 1. Lesung: Ez 33,7-9| 2. Lesung: Röm 13,8-10| Evangelium: Mt 18,15-20”
Falls noch jemand Lesehilfe wie ich braucht:
„Vernadern“ gehört nicht zum deutschen Grundwortschatz und bedeutet so viel wie:
Verleumden, verraten, denunzieren….
Bei den so fruchtbaren Kommentaren von Pfr. Baldauf und Frau Weiss finden sich hoffentlich auch viele deutsche Leser von Bayern bis Preussen.
Uns allen eine gesegnete Zeit!