Hinhören und Hinsehen 1. Lesung: Am 7,12-15| 2. Lesung: Eph 1,3-14| Evangelium: Mk 6,7-13
Nachdem die Jünger die Schiffsfahrt auf dem stürmischen See hinter sich gebracht hatten und wieder auf der Heimatseite des Sees gelandet waren, schickte Jesus seine Jünger aus. Erstmals sind sie aufgerufen, allein – ohne ihren Lehrmeister – in Dörfer und Städte zu gehen. Sie sollen lernen, auf Menschen zuzugehen, das Gespräch zu suchen und Gutes zu wirken. Warum schickt Jesus die Jünger aber immer zu zweit aus? Natürlich kann man einbringen, damit sie einfach sicherer unterwegs sind, keine Einsamkeit verspüren – zum Schutz. Ja, zum Schutz wurden sie zu zweit ausgesendet, aber vielleicht sollte die Zweisamkeit nicht dem Schutz vor anderen Personen dienen, sondern vor der Allmacht der eigenen Bilder und Vorstellungen.
Was wir heute über den Propheten Amos gelesen haben, gilt auch für die Jünger. Amos war Bauer und der Herr hat ihn von seiner Herde weggenommen. Die Jünger waren Fischer, aber auch keine gelernten Missionare, Prediger oder Propheten, sie wurden von ihren Booten weggerufen. Der Auftrag der allen gemeinsam war, sich den Sorgen und Nöten des Volkes Israel anzunehmen. ProphetIn oder JüngerIn zu sein, setzt die Bereitschaft voraus, aus der Ich-Bezogenheit hinauszutreten und offen für den Diskurs mit der Welt zu sein. Prophetie heißt: mit aufmerksamem Geist und hörendem Herzen am Puls der Zeit zu sein, die Zeichen der Zeit zu lesen, klar und eindeutig soziale und religiöse Missstände und Fehlentwicklungen aufzuzeigen.
Zur Zeit von Amos ist das Volk Israel geteilt in ein Nord- und ein Südreich. Amos stammt aus dem Südreich, tritt aber mit seiner prophetischen Botschaft im Nordreich auf, wo es unter Jerobeam II. äußeren Frieden und wirtschaftlichen Aufschwung gab. So entstand ein monumentaler Staat mit einem aufwendigen Verwaltungsapparat. Wenige haben sich auf Kosten der ärmeren Bevölkerungsschichten großen Reichtum erworben. Amos prangert die herrschende Korruption und die soziale Ausbeutung öffentlich an. Er spart auch nicht mit Kritik an den religiösen Eliten. Er warnt davor, sich aufgrund religiöser Rituale und Feiern in Sicherheit zu wiegen. Im heutigen Textabschnitt wird Amos von Amazja dem Priester des königlichen Heiligtums von Bet-El aufgefordert, nach Juda zu flüchten und dort Unheil zu prophezeien. Die religiösen Eliten hätten gerne ihre Ruhe. Amos weigerte sich und es folgte die Vernichtung des Nordreiches.
Die Worte seines Buches mahnen bis heute, dass sich aus dem Glauben an Gott eine Kontrastgesellschaft gegenüber dem Unrecht der menschlichen Welt ergeben müsse, so der Theologe Til Magnus Steiner. Die Bibel sei kein reines Frömmigkeits- und Andachtsbuch. Derjenige, der an den Gott der Bibel glaube, müsse Anwalt, Aktivist und Politiker werden für eine am Willen Gottes ausgerichtete soziale, gesellschaftliche Revolution.
Jesus schickt seine Jünger ohne etwas, kann man sagen. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass sie ständig in Kontakt mit Menschen treten müssen, weil sie um Unterkunft fragen, um Essen und Reinigung der Kleider bitten müssen. Jesus wollte keine Kleidungsvorschriften machen, sondern einen Diskursauftrag erteilen: Einerseits mit jenen Menschen, die sie kennenlernen und andererseits auch zwischen den Jüngern. Wer kennt das nicht, man ist zu zweit oder in einer Gruppe auf Reisen. Allein die Auswahl von Museumsbesuchen, Zeiten fürs Einkaufen oder Baden, die Auswahl der Restaurants sorgt für Gesprächsstoff. Geht man in einer Gruppe zu einem Fest oder zu einer Veranstaltung gibt es im Anschluss Diskussionen, weil der Musikgeschmack unterschiedlich ist, der Inhalt von Gesprächen anders beurteilt wird und auch Sympathien nicht gleich ausfallen. Es findet ein Diskurs statt, Gespräche und Debatten, in denen man gezwungen ist, die eigenen Argumente zu formulieren, zuzuhören und sich kritisch hinterfragen zu lassen. Es geht nicht um eine Vereinheitlichung von Meinung, sondern um die Prüfung von Argumenten und Gegenargumenten bzw. die Wahrnehmung, dass man selbst nicht alleine auf der Welt ist und nur in Abstimmung mit anderen das gesellschaftliche Umfeld gestalten kann. Hinlänglich bezeichnet man dies als Diskurs. Eine Fähigkeit, die uns immer mehr abhandenkommt. Wir tendieren dazu uns zurückzuziehen, tauschen uns nicht mehr aus, die Gespräche am Stammtisch sterben aus. Der deutsche Philosph Otfried Höffe meint: „Es ist eine Schande, dass eine Gesellschaft, die als Demokratie von Debatten lebt, den Meinungskorridor immer enger macht”. Die Gegenwart sei geprägt von Grabenkämpfen, von Verhärtungen, von Druck und Gegendruck.
Amos spricht von einem unauflöslichen Zusammenhang zwischen dem Glauben und dem gesellschaftlichen Handeln. Damit die eigenen Glaubensansichten nicht aus dem Ruder laufen, keine Verhärtungen oder Fundamentalismen auftreten, bedarf es eines ständigen Austausches. Es geht auch nicht um massive Bekehrungsversuche. Jesus selbst empfiehlt: „Wenn man euch aber in einem Ort nicht aufnimmt und euch nicht hören will, dann geht weiter“ (Mk 6,11).
Prophetie meint, Diskurse anzufachen, den Austausch von Argumenten zu pflegen, hinterfragen und prüfen. Sich dabei auf die Lebenswelt der Menschen einzulassen, Hinsehen und Hinhören. Die Jünger erhielten dazu kein Amt, auch Amos hatte kein Prophetenamt inne, sondern er wollte zu einer gerechten und menschenfreundlichen Gesellschaft aufrufen.
Die Zeiten des äußeren Friedens und des wirtschaftlichen Aufschwungs haben auch bei uns in Staat und Kirche aufwendige Verwaltungsapparate geschaffen. Kirchlich hält man verkrampft an überholten Traditionen fest, verengt den Blick und verliert damit den Anschluss an die Lebenswelt der Menschen. Debatten über Ämterfragen und Strukturen verstellen den Blick auf das Wesentliche. Amos warnte davor, sich aufgrund religiöser Rituale und Feiern in Sicherheit zu wiegen.
Es geht darum sich abberufen zu lassen, sich vom Gewohnten zu lösen und sich einzubringen. Dazu braucht man kein Amt. Damals und heute nicht. Der Auftrag ist und bleibt, sich den Sorgen und Nöten der Menschen anzunehmen und religiöse Missstände und Fehlentwicklungen aufzuzeigen.
Wenn Sie den Text der 1. Lesung aus dem Buch Amos anhören möchten:
Wenn Sie den Text der 2. Lesung aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Éphesus anhören möchten:
Wenn Sie den Text aus dem heiligen Evangelium nach Markus anhören möchten:
In unseren Gedanken zu den Texten der Sonntage haben wir schon öfter auf die Problematik von Textauslassungen hingewiesen. Wir wollen einen Versuch starten und werden ab dem Beginn des neuen Lesejahres die Texte in der Länge der biblischen Verfasser lesen.
Seit Jahrhunderten beeindruckt die Bibel Menschen mit ihren Formulierungen. In der Zeit ihrer Entstehung für jeden verständlich brauchen Leserinnen und Leser von heute eine Übersetzung dieser Texte. Jede Übersetzung ist in gewisser Weise auch eine Deutung der Schrift. Die Einheitsübersetzung ist uns bereits vertraut. Wir wollen bewusst mit Beginn des neuen Kirchenjahres eine andere Übersetzung verwenden, um uns neu von den Texten überraschen zu lassen. Wir haben uns für die Übersetzung der BasisBibel entschieden, die seit Januar 2021 vollständig vorliegt. Die BasisBibel ist die Bibelübersetzung für das 21. Jahrhundert: klare Sprache, kurze Sätze und verständliche Sprache.