Kann Gott je näher bei den Menschen sein? Li Hangartner über die Bedeutung des Segens
Leben braucht Segen. Leben braucht den Zuspruch, dass es gut wird und dass es einen Sinn hat. Leben braucht die Hoffnung, die über uns Menschen hinausweist. Leben braucht Segen in den unterschiedlichsten großen und kleinen, den einmaligen und auch immer wiederkehrenden Situationen: am Abend und am Morgen, im Laufe des Kirchenjahres, im Gottesdienst. Leben braucht Segen vor allem und immer auch an Wendepunkten und in Situationen im Leben, wo sich Erfahrungen des Menschseins besonders verdichten, wo das Leben Antworten gibt oder neue Fragen stellt. Allen Situationen gemeinsam ist die tiefe Sehnsucht, dass das Leben gut sein möge, dass das neue Leben eines Kindes behütet und beschützt sein möge, dass nach einer schmerzlichen Erfahrung ein nächster Schritt im Vertrauen möglich werde, dass der Tod eines lieben Menschen getragen sei von Liebe und Dankbarkeit. Diese Sehnsucht braucht ihren Ausdruck, sie braucht eine Geste, ein Gebet, einen Segen.
Segen – Grundgeste des Glaubens
Segen vermag einem Menschen den Schmerz nicht zu nehmen und die Freude nicht zu erhöhen. Segen nimmt niemanden aus der Verantwortung für das eigene Leben und die Gestaltung der Welt. Und dennoch macht es einen Unterschied, ob ich mit oder ohne Segen aufbreche, wohin auch immer, in den Tag, in die Nacht, in einen neuen Lebensabschnitt. Es macht einen Unterschied, ob ich andere Menschen mit oder ohne Segen gehen lasse.
Segen kann die Menschen im mehrfachen Sinne berühren. Er gibt der Sehnsucht Ausdruck, dass Liebe und Frieden zwischen Menschen und in der Welt möglich sein können und er hält diese Sehnsucht wach. Er stellt nicht die Fülle her, aber er erinnert immer wieder daran, dass Größeres möglich ist und sein kann. Er erinnert an den Segen Gottes, der uns in der Schöpfungsgeschichte überliefert ist, dass es von Anfang an gut mit uns gemeint ist.
Segen verbindet mit Gott und ermächtigt zu neuem Leben. Segnende und Gesegnete werden zu Gottes Mitarbeitenden an der Schöpfung.
Segen ist auch die Erlaubnis zum Lebensglück, die Erlaubnis, das Leben zu genießen und Gott auch in der Freude mitten ins Leben zu holen. Gott ist auch im Glück bei uns, nicht nur im Unglück, auch in der Kraft, nicht nur im Leid, auch in der Lust, nicht nur in der Unbeweglichkeit.
Der Segen kommt nicht erst durch Worte
Wir Menschen des Abendlandes verbinden Segen und Segnen meistens mit gesprochenen Worten, zumindest mit bestimmten Gesten. Im alten Israel gingen die Menschen davon aus, dass der Segen (berakah) in vielem Geschaffenen einfach ist. Segen ist das Gute in der Schöpfung. Segen ist überall dort vorhanden, wo Leben gedeiht. Der Regen, der die Saat aufgehen lässt, ist Segen. Die vollen Brüste der Frau sind ein eigentliches Segenssymbol. Die ursprünglichste Segenserfahrung jedes Menschen, die auch auf die Gottesbeziehung übertragen wurde, ist das freundlich zugewandte Angesicht, das Erbarmen und Fürsorge, Freundschaft und liebevolle Begleitung signalisiert. Gott ist die eigentliche Segensquelle. Deshalb wird Gott – im Judentum bis heute – von Menschen gesegnet.
Nicht nur segensbedürftig, auch segensfähig
Die Fähigkeit zu segnen erwächst aus der Erfahrung des eigenen Gesegnetseins. Andere Menschen zu segnen hilft, das Leben zu intensivieren, stark und tatkräftig zu machen, lebens- und hoffnungsfroh.
Der Segen, der den Namen Gottes nennt, verspricht mehr als ein bisschen Glück. Er sagt Unsägliches: die Vergebung in der Schuld, die Rettung aus den Zusammenbrüchen, das Heil im Unheil. Wer Gott nennt, braucht weder sich selbst noch der Welt gegenüber ständig in der Haltung des Machers gegenüberzutreten, braucht nicht Garantin des Lebens zu sein, nicht immer stark, gesund, unfehlbar, unanfechtbar und allmächtig. Wer Gott nennt, kann auch schwach sein, berührbar, gebrochen. Des Segens bedürftig sein heisst, darauf verzichten, das Leben herbeizuzwingen. Das ist die Voraussetzung einer tiefen inneren Gewaltlosigkeit. So ist der Segen nicht irgendein religiöser Brauch. Er ist die Grundgeste der christlich-jüdischen Tradition.
Li Hangartner, freischaffende Theologin, Luzern
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort – Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 1/20 publiziert worden.