Licht auf unserem (Lebens-)Weg. Gedanken zum Sonntag des Wortes Gottes von Walter Kirchschläger
Das in der Überschrift etwas abgewandelte Zitat aus Ps 119,105 entspricht dem Verständnis von der Bedeutung der Heiligen Schrift und spiegelt die Theologie des letzten Großen Konzils. Erstmals wurde auf dieser Kirchenversammlung seitens des katholischen Lehramtes eingehend über den Stellenwert der Bibel reflektiert. In dem daraus entstehenden Dokument über die göttliche Offenbarung wurde die Bibel als maßgebliche Grundlage des theologischen und kirchlichen Handelns verstanden. Damit wurden verschiedene Einseitigkeiten, die sich seit der Reformation in das katholische Denken zugunsten der kirchlichen Überlieferung eingeschlichen hatten, beseitigt. Die ökumenische Dimension dieses Schrittes ist nicht zu übersehen.
Sonntag – Gedächtnis der Auferstehung Jesu
Die vom Konzil ausgelöste Liturgiereform hat auch das Verständnis des Sonntags als Gedächtnistag an die Auferstehung Jesu wieder stärker in das Bewusstsein der Christinnen und Christen gerückt. Schon von Beginn der christlichen Glaubenspraxis an kannte dieser Tag einen einzigen Feierinhalt: „Christus ist auferstanden“ (erstmals 1 Thess 4,14), bzw.: „Er wurde auferweckt“ (erstmals 1 Kor 15,4) – und dies nicht als Ausdruck eines Hokuspokus, sondern als gemeinsame Glaubensüberzeugung aufgrund der von Gott geoffenbarten Osterbotschaft (vgl. insbesondere die Grabeserzählungen der Evangelien). In den neutestamentlichen Schriften ist dieses Zeugnis überliefert bis zum heutigen Tag. Es steht im Zusammenhang mit der Verkündigung über das heilende und lebensbejahende Wirken Gottes in der gesamten Bibel, ist also in einer Linie und bündig mit dem gesamten biblischen Zeugnis über Gott und sein Wirken – in diesem Sinne also „gemäß der Schrift“ (1 Kor 15,3.4).
Schon Lukas vertieft mit der Erzählung über die Auslegung der gesamten Schrift durch den unbekannten Wegbegleiter und mit der Zusammenfassung der abendlichen Mahlfeier mit Kleopas und einer zweiten Person aus der Jesusgemeinschaft in Emmaus die Grundlage für das sonntägliche Gedächtnis (siehe Lk 24, bes. 27 und 30–31) – kein Wunder, dass dann nicht mehr von einem unbekannten Wegbegleiter die Rede ist, sondern eben vom Auferstandenen, dem Kyrios.
Jesus Christus in unserer Mitte
Der „Sonntag des Wortes Gottes“, den Bischof Franziskus am 30. September 2019 für den 3. Sonntag im Jahreskreis (diesmal also für den 24. Jänner 2021) eingeführt hat, ist also nicht irgendein weiterer Themensonntag, sondern zielt als Weckruf auf die Vertiefung dessen, was der Sonntag bedeutet. Es ist der Tag, an dem Christinnen und Christen im Gottesdienst (und darüber hinaus) erleben und deshalb feiern können, dass Jesus Christus als der auferstandene und erhöhte Herr mitten unter uns ist – getreu seiner Zusage (Mt 28,20) und erlebbar im Aufnehmen des Wortes und im Teilen des Mahles. Darin gibt er sich den Glaubenden für eine Teilhabe an seiner Lebensüberfülle (bes. Joh 6,56–57 und 10,10). Es ist ein besonderes Verdienst des Konzils, die untrennbare Zusammengehörigkeit des „Tisches des Wortes“ und des „Tisches des Leibes Christi“ festgeschrieben zu haben. Von beiden „Tischen“ wird den Glaubenden „das Brot des Lebens“ gereicht (Offenbarungsdokument Art. 21). Kardinal König hat mehrfach daran erinnert, dass zu jeder Sitzung des Konzils eine Ausgabe der Heiligen Schrift in der Mitte der Peterskirche inthronisiert wurde. „Dieses Buch und die Meßfeier zu Beginn einer jeden Hauptsitzung … waren die deutlichen Hinweise auf das Fundament auch dieses Konzils, auf Christus und seine Botschaft an alle Völker“ (Franz König, Das II. Vatikanische Konzil und der Weg der Kirche ins dritte Millenium [Batschunser Begegnungen 15], Batschuns 1996, 8).
Eine neue Aufmerksamkeit
Natürlich wäre es wünschenswert, diese theologische Einsicht hätte stärkere Spuren gezogen. Auch im sonntäglichen Gottesdienst liegt die Heilige Schrift auf dem Lesepult, wird uns daraus verkündet als „Wort des lebendigen Gottes“ und als „Evangelium unseres Herrn Jesus Christus“. Dieses proklamierende Bekenntnis wird von allen Mitfeiernden als Ausdruck eines gemeinsamen Bekenntnisses zustimmend quittiert. Ob es nicht vielfach zur Formel verkommen ist (ähnlich wie die Wechselrede „Der Leib Christi – Amen“)? Es braucht ein neues Bewusstsein und eine Besinnung darauf, wer da zu uns durch den Mund von Lektorin oder Lektor spricht.
Und es braucht den Mut für konkrete Folgerungen. Schon Hieronymus (4./5. Jh.) bekennt: „Wir essen das Fleisch und trinken das Blut Christi nicht nur im Geheimnis [= der Eucharistie], sondern auch in der Lesung der Heiligen Schrift“ (Hieronymus, Kommentar zum Buch des Predigers, hier zu Koh 3,13, in: Corpus Christianorum Series Latina 72,1,1, Turnhout 1959, 278). Zwar beschäftigt sich die Theologie vermehrt mit dem sakramentalen Charakter der Schrift, die entsprechende kirchenamtliche Aufwertung dieser Form der Christusbegegnung steht weiterhin aus. Angesichts des (bibel)theologischen Befundes kann die festgeschriebene Siebenzahl der Sakramente dafür kein wirkliches Hindernis sein.
Schließlich kann die Besinnung auf das Wort Gottes in der Feier des Sonntags auch dazu anregen, einmal die Vielzahl immer wiederkehrender und daher vertrauter liturgischer Texte erneut zu bedenken. Auch abgesehen von den Lesungen aus der Heiligen Schrift bestehen liturgische Texte zu einem Großteil aus einer verwobenen Textur von biblischen Zitaten, Anspielungen und Assoziationen (z. B.: Im Namen des Vaters …, Der Herr sei mit euch, Ehre sei Gott in der Höhe …, Vater unser …, Lamm Gottes …, Herr, ich bin nicht würdig …, Amen, usw.). Die feiernde Gemeinschaft (und Einzelne) könnten dem Sinngehalt dieser Texte in Verbindung mit der Heiligen Schrift erneut nachgehen und ihn in das liturgische Feiern mit einbeziehen.
Walter Kirchschläger, Em. Professor für Neues Testament, Luzern
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort.Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 1/21 publiziert worden. Bei Interesse können Sie hier die Zeitschrift bestellen.