Mystik und der Einsatz gegen Gewalt und Zerstörung Gedanken zu Psalm 139 von Susanne Winder
Psalm 138 bis 145 bilden miteinander die „David-Psalmen“. Sie gehören zusammen, inhaltlich und kompositorisch, und sind ein großes Loblied auf JHWH. Psalm 139 als Teil davon ist einer der bekanntesten Psalmen, seine Verse sind voll Poesie, voll kraftvoller Bilder und wohltuender Bestärkung. Sie finden sich auf Spruchkarten und Taufkerzen: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir“, „Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin”, „Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, auch dort würde deine Hand mich führen … “.
Man kann diese Sätze auch anders hören. Das Gefühl, dass Gott immer da ist, hat eine Kehrseite. Ein Vers klingt, als wollte der Beter am liebsten davonlaufen vor diesem ständigen Gesehensein: „Wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht?“ Psalm 139 wird oft auch als „Gedicht vom Großen Bruder“ gelesen, der den Menschen permanent kontrolliert und es ihm unerträglich eng macht.
Bei genauerem Lesen wird aber deutlich, dass die Nähe Gottes nur Teil einer Frage ist, die den Beter heftig umtreibt. Einer Frage, mit der viele Menschen, die wach und mit offenem Herzen durch die Welt gehen, irgendwann konfrontiert sind. Im Gebet setzt er sich intensiv mit sich selbst und Gott auseinander und sucht nach einer Klärung und seiner Antwort.
Es beginnt damit, dass er sich bewusst macht, was er sein ganzes Leben lang erlebt: Dass JHWH immer und in jedem Moment gegenwärtig ist und um ihn weiß. Alles führt er sich vor Augen, sein Aufstehen, sein Hinsetzen, alles, was er denkt und spricht. Und staunend findet er: Gott ist immer da. Er erkennt mich. Er meint mich. Ich bin in seinen Augen kostbar. Gleichzeitig scheint ihm diese Vorstellung aber fast zu überwältigend zu sein. Er wird unsicher, beginnt zu zweifeln: Kann das überhaupt stimmen? Kann ich das glauben? Und wie um sich seiner selbst zu vergewissern, probiert er gedanklich aus, wie weit er dieser Erkenntnis vertrauen kann. In alle Richtungen denkt er, zum Himmel und zur Unterwelt, von der Morgenröte bis zum Rand des Meeres und weiß: Ja! So erfährt er es wirklich: Überall ist Gottes Hand da und leitet ihn. Und dann, als wolle er Gott zum Zeugen nehmen dafür, dass das stimmt: „Du hast mich gewoben im Schoß meiner Mutter, du hast meine Nieren bereitet!“ Wenn er JHWH als den anredet, mit dem er schon vor jedem Anfang innig verbunden war und der um sein Innerstes weiß (Nieren sind in der Bibel ein Bild für die Gefühle, aber auch für das Gewissen des Menschen, für seine Fähigkeit zu unterscheiden und Giftiges auszuscheiden), dann klingt das wie eine dringende Bitte um Bestätigung: Bitte lass mich sicher werden, dass ich mir nichts vormache.
Und erst dann kommt, was ihn so sehr beschäftigt. Es platzt richtig heraus aus ihm. Jetzt wird sichtbar, warum diese Selbstvergewisserung im Gebet notwendig war: Etwas passt nicht! Die Frevler und Blutmänner sind an der Macht und JHWH lässt das zu! JHWH, der ihn und die Welt so wunderbar gemacht hat, greift nicht ein, wo Unrecht und Zerstörung geschieht. Das stellt alles in Frage, sogar JHWH selbst. Der Beter ringt mit sich: Was bedeutet das für ihn? Was soll er tun? Die Antwort, die er findet: Er darf nicht wegschauen, wenn Böses geschieht. Gerade weil er die Größe, die Zugewandtheit und Gegenwart JHWHs in allem erfahren hat und glaubt, muss er handeln. Hassen im Hebräischen meint nicht einfach ein Gefühl, sondern – wie lieben – ein Tun. Wer Gott als den Schöpfer des Lebens weiß, wer sich von ihm geliebt erfährt, muss sich dem Zerstörerischen in den Weg stellen, mit aller Kraft und allem Einsatz dagegen vorgehen. „Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft korrumpieren die Verbundenheit mit Gott“, sagt Erich Zenger.
Am Ende seines Ringens wendet sich der Beter noch einmal flehend an JHWH: Ich brauche dich dazu! Nur du weißt und kannst mich erkennen lassen, ob ich richtig unterwegs bin. Leite mich!
Susanne Winder, Lehrerin an der Kathi-Lampert-Schule, Mitglied des Freundeskreises des Werks der Frohbotschaft Batschuns, Dornbirn
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort – Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 3/18 publiziert worden.