„Schau hin!“ Gedanken von Walter Kirchschläger zum Leitwort des 3. Ökumenischen Kirchentages
Die meisten von uns kennen diese biblische Erzählung: Die Situation am Abend eines langen Tages am anderen Ufer des Sees Gennesaret. Viele Menschen sind versammelt, um Jesus zu hören, aber unweigerlich geht die Zeit vorbei. Die Gegend ist abgelegen, ohne jede Infrastruktur. Die Jüngerinnen und Jünger ergreifen gegenüber Jesus die Initiative: „Schick sie weg, damit sie in die umliegenden Gehöfte und Dörfer gehen und sich etwas zu essen kaufen können“ – so schreibt Markus (6,36). Aber Jesus reagiert anders als erwartet: „Gebt ihr ihnen zu essen!“ Die Menschen aus seinem Umfeld meinen, das sei ein Auftrag, Brot zu kaufen, aber Jesus hat es anders gemeint. Er lässt sie die eigenen Vorräte überprüfen, fünf Brote und zwei Fische kommen zu Tage. Und dann … „Die große Speisung“ oder so ähnlich steht in unseren Bibelausgaben als Überschrift zu dieser Episode aus dem Wirken Jesu (Mk 6,30–44). Keine und keiner muss hungrig nach Hause gehen.
Die Einzelheiten dieser Erzählung vermitteln Einblick in die Eigenart und Besonderheit Jesu und seiner Anliegen. Eine davon hat das Präsidium des 3. Ökumenischen Kirchentages, der von 13. bis 16. Mai dieses Jahres von Frankfurt aus digital gefeiert wird, als Leitwort herausgegriffen.
„Schau hin“
Auf den Vorschlag, Brot kaufen zu gehen, antwortet Jesus den Jüngerinnen und Jüngern: „Wie viele Brote habt ihr! Geht und seht nach!“ (Mk 6,38). An diesem Auftrag setzen die Verantwortlichen des Kirchentages an. Sie überspringen dabei den ersten Imperativ „Geht!“ Er gehört zum Grundbestand der Unterweisung Jesu an all jene, die ihm nachfolgen. Der eigene Aufbruch aus dem Stillstand ist Voraussetzung für alles Weitere.
Nachsehen oder hinschauen ist das Gegenteil von wegschauen und die Augen verschließen. Es ist die Bereitschaft, die Wirklichkeit genau zu erfassen, den Gegebenheiten auf den Grund zu gehen, um daraus die notwendigen Folgerungen zu ziehen. Wer hinschaut, begnügt sich nicht mit oberflächlichen Eindrücken, sondern orientiert sich umfassend und zieht erst dann möglichst fundierte Schlüsse.
Schau hin – übernimm Verantwortung
Die Menschen wegschicken, das wäre für die Jüngerinnen und Jünger die einfachere Lösung gewesen. Die Menschen hätten selbst für ihre Nahrung Sorge tragen müssen. Aber das ist nicht die Art Jesu. Zuvor in der Episode ist von seinem Mitleid mit den Menschen die Rede, wie Schafe ohne Hirten seien sie gewesen. So nimmt Jesus wahr, dass er am Abend und in abgelegener Gegend nicht einfach sagen kann: Kümmert euch selbst. Hinschauen ist nicht zuschauen, und es beachtet das Zumutbare.
Hinschauen kann mühsam sein. Die vielen Menschen in kleineren Gruppen zu lagern, das ist nicht einfach und es geht nicht von selbst. Eigenes Engagement ist gefordert, beim Verteilen der Speisen, beim Einsammeln der Reste. Hinschauen braucht eigene Initiative sowie Solidarität und ist Ausdruck dafür.
Schau hin – hab Vertrauen
Essen für mehr als fünftausend Menschen – die Jüngerinnen und Jünger wissen, dass sie das nicht mitführen, nicht vorbereitet haben und auch nicht so einfach bereitstellen können. Trotzdem sagt ihnen Jesus: „Schaut hin!“ Schaut die Situation genau an, begnügt euch nicht mit dem Augenschein. Seid euch bewusst: Ihr seid nicht allein. Nur zwei Kapitel davor erzählt Markus von der Stillung des Seesturms. In der Folge lautet die Frage Jesu an seine Begleiterinnen und Begleiter: „Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben“? (Mk 4,40). Rationales Wissen und kluges Planen können Vertrauen auf die Gottesdimension der Wirklichkeit nicht außer Kraft setzen.
Schau hin – nicht weg
Das ist entscheidend. Keine andere Haltung kann sich auf Jesus von Nazaret berufen. Achtloses Vorübergehen mag scheinbar sogar gute Gründe haben, aber es ist der falsche Weg. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter anerkennt keine Ausnahmen. Gott hat im Christusgeschehen deutlich gemacht, dass die einzige bewegende Kraft zwischen Menschen das Eintreten füreinander ist. Das wiegt stärker als Finanzberechnungen und politische Kalküle, auf dieser Grundlage kann zutreffend und menschengerecht analysiert und dann gehandelt werden. Wo Menschen in unserer Welt unter die Räder kommen, dürfen andere Menschen nicht wegschauen. Das gilt in Gesellschaft, Politik und in den Kirchen. Anderes ist gott-los.
Schau hin – so wie Gott hinschaut
Denn Gott schaut nicht weg, sondern hin. Schon der eine Gott Israels, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, hat hingeschaut auf die Sklaverei der Mosesippe in Ägypten, und er hat gehandelt (vgl. Ex 3–15). Die Jüdische Bibel und das Neue Testament bezeugen den Blick Gottes besonders dort, wo Not, Unrecht, Leid und Schuld den Menschen bedrängen. Diese Texte lassen uns wissen: Gott wird nicht müde, hinzuschauen. In ihrem Lobpreis auf diesen einen Gott besingt Maria diese Haltung Gottes: Hinzuschauen auf die Kleinheit des Menschen (Lk 1,48), auf seine sündhafte Bedürftigkeit. „Ich bin ein sündiger Mensch, den der Herr angeschaut hat“ – so Bischof Franziskus im Sommer 2013 (Antonio Spadaro, Das Interview mit dem Papst, Freiburg 2013, 27–28). Dieser Gott ist der Gott Jesu, der Gott aller christlichen Kirchen und Gemeinschaften. Daher hat auch Jesus nicht vorbeigeschaut an den Menschen, sondern hinein mitten in ihre Not von Krankheit, Armut, Schuld … und er hat Heil(ung) gebracht.
Schau hin! Das ist der Blick Gottes. Dieser Blick ermöglicht Nahrung, er gibt Leben, er kann das Herz des Menschen überströmen lassen. –
Es ist zu hoffen, dass die Menschen, wenn sie den Kirchentag mitverfolgen, diesen Blick etwas einüben und ihn sich zu eigen machen.
Walter Kirchschläger, em. Professor für Neues Testament, Luzern
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort.Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 2/21 publiziert worden. Bei Interesse können Sie hier die Zeitschrift bestellen.