Wer ist die Frau in Offenbarung 12? Eine Erläuterung von Oliver Achilles
Die Johannes-Apokalypse wurde von ihrem Verfasser nicht als »geheime Offenbarung« verstanden – so sagt der Deute-Engel am Ende des Werkes zum Seher: “Versiegle dieses Buch mit seinen prophetischen Worten nicht! Denn die Zeit ist nahe” (Offb 22,10). Ungewöhnlich ist auch, dass der Verfasser dieser Apokalypse nicht unter einem Pseudonym schreibt – er verwendet seinen Namen (Offb 1,1.4) und gibt sich nicht als Mose, Henoch oder Baruch aus, wie es andere Autoren dieser literarischen Gattung taten. Johannes ist Teil einer Gemeinschaft von frühchristlichen Propheten (Offb 10,7; 22,9) und möchte kirchlichen Gemeinden in Kleinasien Trost und Hoffnung spenden, denen Verfolgung in einer zunehmend schwierigeren Umwelt droht (Offb 2,13; 7,14; 12,11). Der wachsende Verfolgungsdruck dürfte mit dem sich intensivierenden römischen Kaiserkult zu tun haben, auf den das Werk deutlich anspielt (Offb 13,6–9).
Neben der politischen Situation zur Zeit der Abfassung des Buches verdienen aber auch seine liturgischen Passagen besondere Aufmerksamkeit: Larry Hurtado hat darauf aufmerksam gemacht, dass in Offb das Lamm zusammen mit Gott himmlische Verehrung empfängt (z. B. Offb 5,13), was die Offb zu einem wichtigen Zeugen für die Christus-Frömmigkeit Ende des ersten oder Anfang des zweiten Jahrhunderts macht. Hurtado spricht in diesem Zusammenhang von einer »radikalen Innovation der monotheistischen Tradition«.
Eines der vielen wirkmächtigen Bilder des Buches, Ausdruck seiner besonderen Spiritualität in den Zeiten der Verfolgung, ist die geheimnisvolle Frau im 12. Kapitel. “Dann erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt. Sie war schwanger und schrie vor Schmerz in ihren Geburtswehen” (Offb 12,1–2). Ein Drache – Sinnbild der widergöttlichen Kräfte – “stand vor der Frau, die gebären sollte; er wollte ihr Kind verschlingen, sobald es geboren war“ (Offb 12,4). Doch das Kind wird zu Gott entrückt, die Frau kann, von Gott versorgt, in der Wüste überleben. Unsere Kirchen sind voll von Zeugnissen der Auslegung dieser Frau als der Gottesmutter Maria. Ich möchte hier in Kürze aufzeigen, dass sich diese Deutung erst relativ spät durchgesetzt hat und nicht ursprünglich ist.
Andreas von St. Victor (gest. 1175) ist sich des Umbruchs in der Auslegungstradition bewusst, wenn er schreibt: »Diese Frau haben nicht wenige in jeder Hinsicht als die allerheiligste Gottesgebärerin und Jungfrau gedeutet, sie glauben, dass sie früher gelitten habe, was an der göttlichen Geburt jenes (Kindes) als vollendet erkannt werden könne. Doch der große Methodius (von Olympus, gest. um 311) bezog dieses (Zeichen) auf die Kirche.« Andreas hätte aber auch auf Ambrosius von Mailand (ca. 339–397) oder Papst Gregor den Großen (ca. 540–604) verweisen können, die beide von der geheimnisvollen Frau in Offb 12 sagten, sie symbolisiere die Kirche.
Ambrosius führt aus: »Diese Frau bedeutet die Kirche, die Sonne Christus. Die Frau war deshalb mit der Sonne bekleidet, weil die Gläubigen, aus denen die Kirche besteht, in der Taufe Christus anziehen. Unter dem Mond aber, den sie – wie es schien – unter ihren Füßen gehabt hat, können wir – weil er zunimmt und abnimmt – diese Welt verstehen, die die Kirche von oben herabsehend mit Füßen tritt, damit sie völlig frei nach den himmlischen Angelegenheiten strebt.«
Ein Zeuge dieser alten Auslegungstradition sind auch die Illustrationen der Trierer und der Bamberger Apokalypse (frühes 9. und frühes 11. Jh.), die die himmlische Frau nicht als Gottesmutter Maria darstellen.
Noch Rupert von Deutz (ca. 1070–1129) fasst den biblischen Befund so zusammen: »Diese Frau bedeutet die heilige Kirche, da wir an so vielen Stellen der Schrift finden, dass sie von ihrem Mann, das bedeute Gott, Frau genannt wird, als Liebender, der sie manchmal hinsichtlich der Sünder, durch Laster und die Sünden des Götzendienstes, als Ehebrecherin überführt. Auf dem Kopf dieser Frau eine Krone von Sternen – die zwölf Patriarchen. Und auf gleiche Weise werden seit dem Beginn der Wiedergeburt (durch die Taufe) die sehr berühmten und angesehenen Apostel als diese Zwölf gezählt.«
Ein uns unbekannter Autor der karolingischen Zeit kennt immerhin die Deutung der Frau als Maria – und weist sie zurück: »Wer auch immer sie ist, das was hier nach dem wörtlichen Sinn erzählt wird, kann nicht eigens der Seligen Jungfrau entsprechen, sondern der Kirche der Erwählten; sie passen schlechthin entsprechend der mystischen Erzählung. Sie (die Kirche) ist mit der Sonne bekleidet, das bedeutet mit Christus.« (Der Text wurde später irrtümlich Haymo von Halberstadt, gestorben 853, zugeschrieben). Bernhard von Clairveaux (ca. 1090–1153) verhilft schließlich der Deutung dieser Frau als Maria zum Durchbruch, die uns heute so selbstverständlich geworden ist.
Der früheste mir bekannte Zeuge für eine marianische Deutung der »Sternenfrau« ist Cassiodor (gestorben um 588), der in seiner Auslegung der Offenbarung davon spricht, dass dieses Bild an die Mutter des Herrn erinnert. Doch was war die ursprüngliche Aussageabsicht des Verfassers? Die von Rupert von Deutz erkannten zahlreichen biblischen Anspielungen sprechen für eine Deutung auf das Gottesvolk. Stefan Schreiber fasst den Befund in einer aktuellen Einleitung zum NT so zusammen: »Die gebärende Frau in Offb 12,1–6 symbolisiert so den eschatologischen, messianischen Neubeginn Gottes mit Israel. Die Gemeinden sollen sich als endzeitlichen Teil Israels verstehen!«
Oliver Achilles, Wissenschaftlicher Assistent der Theologischen Kurse, Wien
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort – Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 3/19 publiziert worden.
Oliver Achilles betreibt auch einen eigenen Blog http://auslegungssache.at mit spannenden Texten zur Auslegung der christlichen Bibel.
3 Kommentare zu “Wer ist die Frau in Offenbarung 12? Eine Erläuterung von Oliver Achilles”
Hallo, mich persönlich interessiert sehr die Offenbarung. Vieles ist Menschlich noch sehr unerforscht. Obwohl allein die Bibel ja schon sehr lange existiert
Die Frau und der Drache denke ich liegt schon hinter uns oder wir sind noch mitten drinnen. Ja schwierig wenn man bedenkt was für interessante Rätsel uns auf dem Weg mitgegeben worden sind. Und wer ist die Hure Babylon? Eure Meinung ?
Es gäbe noch so vieles zu fragen, zu besprechen, zu denken und zu finden. Hoffe auf Antwort
Liebe Grüße Marion
Hallo Marion,
in der Bibel steht, daß man täglich in den Schriften forschen soll. Nun diese Schriften sind mehr, als die Bibel. Die Apokryphen und Henochbücher werden Dich erfreuen, dir jede Menge Mut und Kraft geben. Die Hure Babylon ist die Religion selbst. Sieh, wie Kirchen ausgenutzt werden von der Politik. Sieh, wie religiöse Bücher einfach verschwinden, nie öffentlich gemacht werden. Ein besseres Zeugnis, daß es den Herrn und Christus gibt, kann es nicht geben.
Laß Dich durch nichts und niemand beeindrucken! Herzliche Grüße Dir
Lieber Steffen, finde total cool, dass dir der Herr so wichtig ist! Wenn in der Bibel von “den Schriften” die Rede ist, ist logischerweise meist das AT gemeint. Ich glaube natürlich, dass auch das NT heilige Schriften sind, aber bei den Apokryphen glaube ich, dass sie von unseren christlichen Vätern der ersten Jahrhunderte aus gutem Grund nicht in den biblischen Kanon aufgenommen wurden. Einiges in so manch apokrypher Schrift mutet doch recht seltsam an. Ganz viel Segen dir!!!