Der Beginn der Bibel als Sehhilfe Eine Erläuterung von Georg Fischer
Wie wir die Welt sehen, wird von vielen Faktoren bestimmt: Unsere familiäre Herkunft, die im Lauf unseres Lebens gemachten Erfahrungen, die Gruppen, denen wir zugehören, die uns umgebende Gesellschaft, … – sie und viel Anderes beeinflussen, wie wir die Welt und uns darin wahrnehmen. Besonders prägend sind die allerersten Eindrücke, die frühen Erlebnisse.
In vergleichbarer Weise bestimmt der Anfang der Bibel alles Weitere und ebenso, wie es zu verstehen ist. Unter dieser Rücksicht kommt dem Buch Genesis eine Schlüsselrolle zu: An ihm entscheidet sich grundlegend, wie wir von Gott denken, welche Auffassung vom Menschsein wir haben und was das Ziel des Lebens ist. Innerhalb des Buches Genesis kommt den Schöpfungserzählungen in Gen 1–2 eine herausragende Stellung zu.
Ein irritierender Anfang
Mit Gottes Erschaffen des Universums und allem darin in sieben Tagen steht eingangs der Bibel eine wunderbare, Harmonie ausstrahlende Eröffnung. Sie kommt einer Ouvertüre gleich, die Zuversicht verströmt, alles in schöner Ordnung präsentiert und im zufriedenen göttlichen Ruhen gipfelt (Gen 2,1–3). Doch wenig später (2,5) fällt die Erde offenbar in einen früheren, in Gen 1 bereits überwundenen Zustand der Öde zurück; der schon im vorhergehenden Kapitel als Mann und Frau erschaffene Mensch wird nun – wieder? – geformt (2,7) und später noch geschlechtlich aufgeteilt (2,18–25), mit dem zusätzlichen Kontrast, dass die Tiere erst nach dem Menschen geschaffen werden. Jeder Lesende wird vor den Kopf gestoßen und muss sich fragen: Lassen sich diese beiden Erzählungen überhaupt vereinbaren?
Neuzeitliche Lösungsversuche
Ab dem 17. Jahrhundert mehrten sich Ansätze, das Problem mit unterschiedlicher Entstehung zu erklären. Dies führte im 19. Jahrhundert dann zu Theorien, die eine „Priesterschrift“ für die erste Schöpfungserzählung und einen anderen Verfasser für die zweite Schilderung annahmen, mit zeitlichem Abstand. Heute noch stellt diese Auffassung die Mehrheitsmeinung unter einflussreichen Auslegern der Bibel dar. Nach gut 150 Jahren solcher Spekulationen wird aber immer klarer, dass sie keine Antwort auf die Frage bieten können, warum die beiden Erzählungen trotz ihrer Spannungen so zusammengestellt und gemeinsam überliefert wurden. Zudem führen diese Hypothesen in immer unwahrscheinlichere Folgerungen bezüglich der Textzusammenhänge. Der Versuch, über verschiedene Verfasser die durch Gen 1–2 ausgelöste Verstörung zu lösen, verstrickt in ein noch größeres Netz von unlösbaren Problemen und kann deswegen als gescheitert angesehen werden.
Andere Modelle
Ist denkbar, dass ein Mensch diese beiden Erzählungen so hintereinander gesetzt hat? – In jedem Fall muss dies spätestens für jene Person angenommen werden, die dem Buch Genesis seine endgültige Form gegeben und dabei solche Irritationen bei den Lesenden in Kauf genommen hat. Wer immer dafür verantwortlich war, hat trotz der offensichtlichen Widersprüche beide Erzählungen miteinander kombiniert. Die Schwierigkeit, wie Gen 1–2 zu vereinbaren sind, beginnt sich zu lösen im Blick auf ähnliche Fälle. Autoren können anfangs mit Prologen, Vorworten, Überblicken Wichtiges bereits vorwegnehmen, bevor sie detaillierter mit der Ausarbeitung im Haupttext beginnen, wobei Letzterer durchaus aus einer anderen Perspektive neue Akzente setzen kann; der Beginn des Johannesevangeliums bietet ein Modell dafür. Die verschiedenen Gattungen bedingen veränderte Darstellungen. Auch andere Bereiche künstlerischer Gestaltung bieten Vergleichsbeispiele. Für Filme gibt es „Trailer“ und Vorspanne, die als „Verdichtungen“ zum weiteren Ansehen anlocken und darauf vorbereiten, gelegentlich sogar Zusammenschnitte nicht verwendeter Szenen, die nachher noch ergänzend das Gesehene ausweiten. In der Musik führen Ouvertüren in Themen ein, die später wiederkehren, aber auch verändert werden. Bei der Planung eines Gebäudes bedarf es mehrerer Ansichten, mindestens aber von Grund- und Aufriss, damit die Gestalt erkennbar wird.
Ein hebräisches Stilmittel
In vergleichbarer Weise setzt die hebräische Bibel auf verschiedenen Ebenen „Doppelperspektiven“ ein. Es beginnt im Kleinen mit dem sogenannten „Parallelismus“, bei dem zwei Formulierungen hintereinander eine ähnliche, zusammengehörende Aussage treffen: „Gut ist, unserem Gott zu singen; schön ist, ihn zu loben“ (Ps 147,1). Es steigert sich über „Zwillingstexte “, z. B. Gen 21–22; 37–38; 2 Kön 18,13–19,37; Ps 105–106; 111–112, die zu einem gemeinsamen Thema zwei verschiedene Aspekte / Sichtweisen einbringen; dazu zählt auch Gen 1–2. Die ausführlichste Form findet dieses Phänomen in der Parallele von Büchern im Fall der Chronik, die vielfach Genesis, Samuel und Könige aufnimmt und mit weiteren Akzenten versieht.
Anders sehen lernen
Nur die Wahrnehmung von zwei Standpunkten aus ermöglicht eine dreidimensionale, der uns umgebenden Wirklichkeit besser entsprechende Sicht. In ähnlicher Weise können die beiden Schöpfungserzählungen, gerade wegen ihrer Verschiedenheiten, eine tiefere, umfassendere und angemessenere Auffassung von Gott, Kosmos und uns Menschen vermitteln. Zusammen bereichern sie unser Verständnis mehr als dies ein einzelner Text vermöchte.
Gen 1–2 sind von daher eine „Schule“. Sie lehren, nicht ein- oder zweidimensional zu sehen, und üben gleich am Beginn der Bibel ein, mehrere Gesichtspunkte ernst zu nehmen. Dies gilt für alle folgenden Texte und für das ganze Leben.
Georg Fischer SJ, Professor für Alttestamentliche Bibelwissenschaft, Innsbruck
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort – Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 1/19 publiziert worden.