Biblische Schatzsuche beim Sonntagsgottesdienst Gedanken von Franz Troyer
„Die Kirche hat die Heiligen Schriften immer verehrt wie den Herrenleib selbst, weil sie, vor allem in der heiligen Liturgie, vom Tisch des Wortes Gottes wie des Leibes Christi ohne Unterlass das Brot des Lebens nimmt und den Gläubigen reicht.“ Bei diesen wichtigen Aussagen des 2. Vatikanischen Konzils (Dei Verbum 21) muss ich meistens schmunzeln. Stimmt es wirklich, dass in unseren Pfarren das Hören des Wortes Gottes genauso gepflegt und geschätzt wird wie das Brotbrechen und die hl. Kommunion? Oder werden die Lesung und das Evangelium bei der hl. Messe höchstens als Vorbereitung auf die hl. Wandlung und die hl. Kommunion gesehen? Streitereien rings um Wortgottesfeiern oder sogar deren strikte Ablehnung zeigen, dass uns oft die Achtung vor der Gegenwart Gottes beim Hören der Hl. Schrift fehlt.
Ich vermute, dass die meisten Christ/innen ihren Kontakt mit der Bibel im Rahmen des Sonntagsgottesdienstes haben. Deshalb hier einige Beobachtungen und Anregungen, wie dieser Kontakt zu einer motivierenden Begegnung werden kann.
Reichlich gedeckter Tisch
Allein die Tatsache, dass bei den Konzilsversammlungen in der Mitte des Petersdoms auf einem eigens dafür vorbereiteten Tisch ein kostbares Exemplar der Hl. Schrift lag, zeigt die neue Wertschätzung der Bibel und die Sehnsucht, aus dieser Quelle zu leben. In den Jahren nach dem Konzil wurde für die Gottesdienste die Auswahl der Bibeltexte vergrößert und auch der Wert des Alten Testaments neu entdeckt. Die Worte vom doppelten Tisch – dem Tisch des Wortes Gottes und des Leibes Christi – verstehe ich als Motivation, in der Liturgie behutsam und wachsam mit dem Wort Gottes umzugehen. Es geht darum, dass dieser Gratistisch mit den besten Speisen noch mehr genützt wird und die Menschen mehr bekommen als Schnellimbisse oder Aufputschmittel.
Gutes Verkünden des Wortes Gottes
Vor Jahren suchte ich kurz vor dem Sonntagsgottesdienst einen Lektor, da die eingeteilte Person nicht gekommen war. Ich ging in den Kirchenraum und sah dort voll Freude und Erleichterung einen Freund, der regelmäßig den Dienst des Lektors übernimmt und als ausgebildeter Schauspieler lebendig liest. Ich zeigte ihm im mitgebrachten Lektionar den Lesungstext und fragte, ob er ihn heute verkünden kann. Ohne lange zu zögern, antwortete dieser: „Nein! Ich bin dazu jetzt nicht vorbereitet. Ich kenne den Text weder vom Inhalt noch vom Satzaufbau her. Es geht nicht, diesen ohne Vorbereitung zu lesen.“ Diese für mich zunächst unerwartete Antwort unterstreicht die Achtung vor dem Wort Gottes und die Selbstverständlichkeit, sich fürs Lesen gut vorzubereiten.
Die gute Vorbereitung der Lektor/innen ist ein Dienst an der Gemeinde und an ihnen selbst. Lektor/innen nützen damit die Chance, sich in kleinen Schritten mit den biblischen Texten vertraut zu machen. Als Vorbereitung verwenden einige das Sonntagsblatt ihrer Diözese, den Sonntagsschott (bereits mit dem Bibeltext der revidierten Einheitsübersetzung erhältlich), einen Bibelleseplan, in dem die jeweiligen Bibeltexte angegeben sind, oder eine gute Homepage, auf der die täglichen Bibeltexte und erklärende Gedanken zu finden sind.
Bahnhofstimmung
Bischof Anton Leichtfried vergleicht die Art, wie in manchen Gottesdiensten die Bibelworte erlebt werden, mit der Stimmung auf einem großen Bahnhof. Züge rauschen durch, manche bleiben kurz stehen. Über Lautsprecher gibt es alle möglichen Durchsagen, die teilweise akustisch schwer verständlich sind. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen.
Ähnlich rauschen manchmal die Lesungen aus der Hl. Schrift an den Ohren und Augen der Gläubigen vorbei, ohne dass diese einsteigen und mitfahren können.
Um die äußere und innere Unruhe zu beseitigen und die Wortlastigkeit vieler Gottesdienste abzufedern, benötigen wir Gespür und Achtsamkeit. Einige Hilfen dafür können sein: Das Wechseln der Sprachmelodie und eine kurze Pause zwischen Lesung und Antwortpsalm verhindern, dass diese beiden Texte ineinander übergehen. Eine kleine oder große Prozession mit dem Evangelienbuch zeigt die Wichtigkeit dieses Buches und spricht nicht nur den Hörsinn, sondern auch die Augen an. Die Leuchter beim Evangelium verkünden nonverbal, dass Gottes Wort ein Licht in der Nacht ist und uns wie ein Leuchtturm den Weg zeigt. Eine biblische Predigt hilft, beim Bibeltext zu verweilen und die Schatzkiste der Bibel zu öffnen.
Ich bin manchmal entsetzt, wenn zwischen den Bibelworten, der Predigt, den Liedern, diversen Gebeten und Meditationen kein Zusammenhang erkennbar ist. Ich erlebe es, dass bei diversen Gottesdiensten die Lesung von einem kopierten Blatt gelesen wird. Natürlich (oder auch nicht! Viele kopierte Bibeltexte stammen von Internetseiten, die veraltete Übersetzungen verwenden) steht auf dem Blatt derselbe Text wie im großen Lektionar, aber ich gebe zu bedenken: Wer von uns würde auf die Idee kommen, ein Festessen und besten Wein in Plastikgeschirr zu servieren?
Biblische Halte- und Tankstellen
Ich finde es wichtig, wenn Pfarren am Sonntag zu biblischen Halte- und Tankstellen werden.
Das Überleben und die Lebendigkeit des christlichen Glaubens und unserer Gemeinden wird zu einem guten Teil davon abhängen, wie weit es uns gelingt, die Quellen unseres Glaubens neu zum Sprudeln zu bringen. Und woher sollte solch eine spirituelle Vertiefung kommen, wenn nicht auch aus dem Wort der Hl. Schrift? Die biblische Sprache ist z. B. durch ihren Bilderreichtum um vieles vitaler als so manche kirchliche Verlautbarung. Die Bibel kann mithelfen, ein ABC des Glaubens und eine Hilfe zum schlichten Glaubensgespräch zu sein. Manche Pfarren verteilen in geprägten Zeiten (z. B. in der Fastenzeit) an jedem Sonntag eine Schriftrolle mit dem zentralen Bibelsatz des Tages. Auf diese Weise kann ein Bibelwort zum Impuls und Begleiter für eine Woche werden.
Franz Troyer, Pfarrer in Lienz/Osttirol, Leiter der Bibelpastoral der Diözese Innsbruck
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort – Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 4/19 publiziert worden.