Aufräumen, sortieren, ordnen Helga Kaiser über Träume in der Bibel
Die Maus sitzt in der selbstgebauten Mausefalle, einer Blechtonne. Über eine kleine Rampe ist sie zum Köder hinuntergefallen. Ich greife hinein – aber die Maus beißt sich in meinem Finger fest – und wächst plötzlich, aus der Tonne hinaus, schaut mich mit furchterregenden Augen an … Ich erwache, Herzklopfen, der unversehrte Finger schmerzt. (Ja, ich scheue mich seit Monaten, die Mäuse auf der Terrasse zu fangen.) Träume in unserer REM-Phase können purer Horror sein und meistens sind sie hoch emotional und bildreich. Doch auch in den Tiefschlafphasen träumen wir: weniger dramatisch, sondern näher an der Wirklichkeit und wortreicher. Welchen Sinn aber haben Träume? Eine These legt nahe, dass die Träume beim Neuordnen und Löschen von Inhalten in unserem Gehirn mit seinem begrenzten Speicherplatz entstehen. Träume sind demnach eine Art Gedanken-Aufräumen.
In biblischer Zeit erfuhr man diese Traumbilder und -worte als einen transzendenten Raum, in dem Gott ist. Daher gehört der Traum zur religiösen Erfahrungswelt. Im Buch Ijob (33,14–16) heißt es: „Denn einmal redet Gott und zweimal, man achtet nicht darauf. Im Traum, im Nachtgesicht, wenn tiefer Schlaf auf die Menschen fällt, im Schlummer auf dem Lager, da öffnet er der Menschen Ohr und schreckt sie auf durch Warnung.“
Dieser Spur folgend ist es Gott, der die Menschen anspricht, wenn die Reize des Tages und das Rauschen in den Ohren ausgeschaltet sind. Die Nacht – wie in der Bibel auch die Wüste – erscheint als ein Ort der Gottesbegegnung; wo der Mensch in einer Sondersituation ist, fast wie in einem „temenos“, einem aus dem Alltäglichen ausgesonderten Raum, in einer heiligen Zeit; in der plötzlich Klarheit da ist; in der man die Vieldeutigkeit des Tages reduziert auf Deutlichkeit; in der man hört und weiß, was zu tun ist. Träume in der Bibel bringen Menschen oft zum Handeln und geben ihnen eine Richtung in ihrem Leben. Der Erzvater Jakob träumt auf dem Weg ins Ungewisse von der Himmelstreppe, auf der Engel Gottes auf und nieder steigen, und hört Gottes verheißende Stimme „ich bin mit dir, ich behüte dich, wohin du gehst“. Daraufhin weiß er zuversichtlich und tatkräftig, was zu tun ist (Gen 28,10ff). Später wird derselbe Jakob im Traum zurückgerufen in sein Heimatland: „Erhebe doch deine Augen und schau hin …“. Jakob kann in der Tiefe der Nacht störungsfrei hinschauen und Gottes Führung erkennen. Besonders im Matthäusevangelium geben Träume Josef, dem Vater Jesu, Klarheit in schwierigen Lebenssituationen. Als Maria schwanger ist, denkt Josef darüber nach, sich zu trennen. Bis zu diesem Punkt – als ihm ein Engel im Traum den nächsten Schritt sagt – ist er noch nicht entschieden. Die Klarheit, zu wissen, wie es weitergeht, nämlich bei Maria zu bleiben, erscheint als etwas Erleichterndes, Göttliches: „Fürchte dich nicht“, sagt der Engel und gibt Josef einen Sinnrahmen für seine vertrackte Situation. Im nächsten wichtigen Traum erhält Josef den Auftrag, mit Frau und Kind vor Herodes nach Ägypten zu fliehen, und später, in einem weiteren Traum, zurückzukehren. Die Erzählung überlässt es den Lesenden, sich den wie zuvor nachdenklichen Josef vorzustellen, der vielleicht eine Gefahr spürt, aber noch nicht entschieden ist und eines Morgens in völliger Klarheit mit der Familie aufbricht. Matthäus erzählt von einem Gott, der sich abseits des Rauschens des Tages Josef an lebenswichtigen – und natürlich auch heilsgeschichtlich wichtigen – Punkten vernehmbar macht.
Träume reichen tief in unser uraltes Menschsein hinein. Sie lassen uns aufschreien, verursachen Herzrasen. Oder sie spielen Varianten unserer Wirklichkeit nach, auch wenn wir uns an diese Träume weniger erinnern. Aber egal wie: Sie sortieren, sie räumen auf, ordnen um. Das Klären und Aufräumen der Gedanken als göttlich erleben und sich Gott als barmherzige, sortierende, leitende, helfende Kraft in unübersichtlichen Gedankenmeeren vorstellen – welch ein tröstliches Gottesbild.
Helga Kaiser, Theologin, wissenschaftliche Referentin des Katholischen Bibelwerk e. V., Stuttgart
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort.Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 3/20 publiziert worden. Bei Interesse können Sie hier die Zeitschrift bestellen.