Alle sollen Leben können 1.Lesung: Jes 55,6-9 | 2. Lesung: Phil 1,20ad-24.27a| Evangelium: Mt 20,1-16
Manchmal erschließt sich eine Bibelstelle aus dem Zusammenhang. So auch heute, denn das Gleichnis hat eine Vorgeschichte, die es mit zu bedenken gilt. Ich versuche sie in kurzen Zügen zu schildern in der Hoffnung, dass der Sinnzusammenhang deutlicher wird:
Jesus ist auf dem Weg nach Jerusalem. Er ahnt bereits die nahende Konfrontation. Er spricht davon, dass er leiden wird müssen. Da kommt ein junger Mann zu ihm und fragt: Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen (Mt 19,16)? Jesus zählt Gebote auf und schließt mit dem Satz: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Der junge Mann antwortet: Alles das befolge ich. Was fehlt mir noch? Er ahnt also, dass er noch nicht das Wahre gefunden hat. Darauf sagt Jesus zu ihm: Dann geh und verkauf deinen Besitz und gib es den Armen. Du wirst einen Schatz im Himmel haben. Und: folge mir nach. Dieser junge Mann, so heißt es, ging traurig weg. Es ist eine misslungene Jüngerberufung. Er geht weg.
Unmittelbar darauf folgt ein Gespräch mit den Jüngern, in dem der bekannte Satz fällt: Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als ein Reicher in das Himmelreich (Mt 19,24). Den entsetzten Jüngern erklärt Jesus: Für Menschen ist das unmöglich, für Gott aber ist alles möglich. Mit anderen Worten: Uns ist es manchmal unmöglich, sei es Hartherzigkeit, Gier oder „Eingefahrenheit“ von Menschen zu brechen oder aufzuweichen. Gott stehen allerdings Wege offen. Seine Möglichkeiten sind andere.
Petrus wendet sich darauf an Jesus mit der Frage: Wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt. Was werden wir dafür bekommen? Die Antwort Jesu: Wenn die Welt neu geschaffen wird und der Menschensohn sich auf den Thron setzt … und die Stämme Israels richtet, dann wird jeder, der um meines Namens willen Häuser, Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker verlassen hat, dafür das Hundertfache erhalten und das ewige Leben (Mt 19,27-29). Gebende, Schenkende gehen also nicht leer aus. Wer Jesus nachfolgt, erfährt Solidarität, dem wachsen neue Beziehungen, neue Freundschaften zu und ewiges Leben, gemeint: eine neue Qualität von Leben.
Und nun folgt das heutige Evangelium, das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg mit dem Gutsbesitzer, der am Abend veranlasst, dass jede und jeder einen Denar erhält. Er provoziert noch dadurch, dass er mit der Auszahlung bei jenen beginnt, die erst um die elfte Stunde kamen. Es muss nicht verwundern, dass es bei jenen Unmut auslöst, die den ganzen Tag in der Hitze arbeiteten.
Das Gleichnis wird eingeleitet mit den Worten: Denn mit dem Himmelreich ist es wie … (Mt 20,1). Bei diesen Worten sind manche Menschen zu denken versucht, dass es nichts mit unserer Welt zu tun habe. Das Himmelreich ist uns fern; es ist eine Perspektive für eine Zeit nach dem Tod. Doch bei Himmelreich geht es Jesus um eine andere Logik, die er der Logik der Welt gegenüber stellt. Die Logik Gottes im Gleichnis besagt, jede und jeder soll zu leben haben. Ein Denar war damals der Tageslohn, mit dem ein Tagelöhner seine Familie versorgen konnte.
Die Logik der Welt mag es als ungerecht empfinden, dass jene, die den ganzen Tag arbeiteten, nicht mehr erhielten als jene, die nur noch eine Stunde im Weinberg arbeiteten. Es sei zur Erinnerung gesagt: Es lebten zur Zeit Jesu über 90% der Bevölkerung am Existenzminimum entweder knapp darüber oder darunter. Das Gleichnis hat also sehr wohl mit der Realität, mit dem soziokulturellen Hintergrund zu tun. Jesus weiß um die Sprengkraft oder auch die Provokation seiner Aussage, denn unmittelbar danach folgt seine dritte Leidensankündigung. Den Privilegierten wird er zum Feind – zum Todfeind.
Wenn wir das gesamte in den Blick nehmen, so lassen sich einige Schlüsse ziehen: Ausgangspunkt ist die Frage: Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Was muss ich tun, um in eine neue Qualität von Leben zu kommen? Das Leben ist ganz wesentlich ein Geben und Nehmen. Wer gibt und teilt, geht alles andere als leer aus, im Gegenteil: so Mensch erhält vielfaches zurück.
Ein weiterer Gedanke: Die Gerechtigkeit Gottes hat nichts mit Wohlstand absichern oder ein sich auf den Privilegien ausruhen können zu tun. Besitz und das, was wir haben, als Familie, als Pfarrgemeinde und Kirche haben, ruft in die Verantwortung für Menschen, die in Not sind.
Schließlich richtet sich dieser Abschnitt gegen die Logik dieser Welt, konkreter gegen jene Logik, die sagt: Ich zuerst. Wir zuerst. Amerika zuerst. Österreich zuerst. Es ist der Weg ins Elend, wenn nicht sogar in den Tod.
Jesu Absicht ist, dass jede und jeder zu leben hat. Das möge den Menschen im ausgebrannten Flüchtlingslager Moria zukommen. Das gelte den Menschen in den Gefängnissen bei uns und anderswo. Das gelte den Menschen, die flüchten, weil ihnen die Klimaveränderung die Lebensgrundlage nimmt oder die aus ihren Ländern fliehen, weil sie Kriege oder Bürgerkriege nicht mitmachen wollen.
Diese Logik von Himmelreich wird uns helfen, wenn wir als Gesellschaft die Corona-Krise in guter Weise bewältigen wollen. Diese Herangehensweise: jede und jeder soll leben können. Es wird neue Modelle des Teilens von Arbeit, von Sozialleistungen und Hilfen brauchen.
Wenn Sie den Text der 1. Lesung aus dem Buch Jesája anhören möchten:
Wenn Sie den Text der 2. Lesung aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Philíppi anhören möchten:
Wenn Sie den Text aus dem heiligen Evangelium nach Matthäus anhören möchten: