Das Vaterunser – Kurzformel des Evangeliums Gedanken von Josef Weismayer
Das Gebet, das uns Jesus selbst gelehrt hat, ist in den Evangelien an zwei Stellen überliefert. Der Text bei Lukas scheint auf den „Sitz im Leben“ zu verweisen: Die Jünger haben Jesus oft als „Betenden“ erfahren, im Gespräch mit seinem Vater. Da bitten sie ihn, sie auch das Beten zu lehren, wie Johannes seine Jünger zu beten gelehrt hat. Jesus geht auf diesen Wunsch der Jünger ein: „Wenn ihr betet, so sprecht: ‚Vater, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Gib uns täglich das Brot, das wir brauchen! Und erlass uns unsere Sünden; denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist. Und führe uns nicht in Versuchung!‘“ (Lk 11,2-4)
Die zweite Überlieferung des Vaterunsers finden wir in der Bergpredigt bei Matthäus. Jesus legt dar, wie wahre Frömmigkeit sein soll: das Almosengeben, das Beten und das Fasten nämlich nicht, um von den Menschen gesehen zu werden. Zum Stichwort „Beten“ fügt der Evangelist noch weitere Worte Jesu an. Da geht es um das Beten der „Heiden“, um das „Plappern“, das Viele-Worte-Machen. Beten ist für Jesus ein Sprechen zum Vater, der weiß, was wir brauchen, noch ehe wir ihn bitten. „So sollt ihr beten: Unser Vater im Himmel …“ (Mt 6,9-13)
Die beiden Überlieferungen des Vaterunsers sind nicht wortgleich, aber in ihrer Grundgestalt gleich. Es spricht viel dafür, dass Jesus den Jüngern mündlich ein Ganzes vermittelt hat, eine Grundgestalt des Betens. Die längere Fassung des Mt-Ev ist schließlich das Gebet der Christen geworden.
Der Kirchenschriftsteller Tertullian (3. Jh.) hat das Vaterunser als „breviarium totius evangelii“, als Kurzfassung des ganzen Evangeliums, bezeichnet, und Bischof Cyprian von Karthago (3. Jh.) nennt es „Compendium unseres Glaubens“.
Das Vaterunser ist nicht nur ein schöner und ansprechend formulierter Gebetstext, sondern das, was formuliert wird, ist das Wesentliche des Glaubens, ist die Mitte unseres Christseins. In der Tradition der christlichen Frömmigkeit ist das Vaterunser auch immer von neuem erläutert, kommentiert und ausgelegt worden. Augustinus hat beispielsweise mehrmals in seinen Schriften und Predigten das Gebet des Herrn ausgelegt. Von Franz von Assisi ist eine kurze Meditation des Vaterunsers überliefert, Martin Luther hat in seinem Kleinen und im Großen Katechismus das Vaterunser als drittes Kapitel nach der Erklärung der Zehn Gebote und dem Glaubensbekenntnis erklärt. Und Teresa von Avila hat im „Weg der Vollkommenheit“ für ihre Mitschwestern das Vaterunser in seinem geistlichen Gehalt erschlossen.
Das Vaterunser – Kurzformel des Evangeliums, das scheint etwas weit hergeholt zu sein. Was ist mit dem „Evangelium“ gemeint? Mk 1,14-15 führt uns weiter: „Nachdem Johannes ausgeliefert worden war, ging Jesus nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ Das ist der Inhalt der Verkündigung Jesu, das ist das Evangelium, die Botschaft: Das Reich Gottes ist „nahe“, es ist in und mit Jesus da, aber noch nicht in Macht und Herrlichkeit. Deshalb beten wir im Vaterunser um das Kommen, um das alles vollendende Ankommen des Reiches Gottes.
Das Evangelium ist zuerst eine positive Ansage und nicht eine Forderung. Die Zeit ist erfüllt, der Plan Gottes mit uns Menschen ist in Jesus, im menschgewordenen Sohn Gottes, in seinem Wort und in seinem Wirken vollendet. Das ist das nahegekommene Reich Gottes, das ist sein Wille, sein Vorhaben mit uns. In Jesus ist dieser Wille schon geschehen. Der Wille Gottes, um dessen Geschehen wir im Vaterunser beten, ist Heil, Erfüllung, Vollendung. Wenn wir in unserer „frommen“ Terminologie vom „Willen Gottes“ reden, meinen wir oft etwas zu Ertragendes, etwas Leidvolles. Gott will für diese Menschheit, für jeden und jede von uns Glück und Erfüllung. Das Evangelium ist eine positive Ansage, aber es ist auch ein Werben um eine Annahme: Es geht um Umkehr und um ein Ja des Glaubens.
Das Vaterunser spricht den „Vater“ an, den Gott, den Jesus mit „Abba“ angesprochen hat (vgl. Mk 14,36). Und darin liegt die unfassbare und grenzenlose Liebe Gottes, zu der wir Vertrauen haben dürfen. Dass sein Plan für uns und mit uns gelinge, dass dieses sein Reich komme und anbreche, das ist der zentrale Wunsch des Gebetes, das uns der Herr gelehrt hat.
Und dann schauen wir auf uns Menschen, auf unsere Situation. Wir beten um das Gelingen unseres Lebens, um das Leben-Können in einem umfassenden Sinn, um das „tägliche“ Brot, „um das Brot, das wir brauchen“. Die Umkehr und das Ja des Glaubens als Antwort auf das Nahekommen des Reiches Gottes stellen eine Lebensaufgabe dar. Da bleiben wir immer etwas „schuldig“, da bleiben wir oft mehr oder weniger „zurück“. Aber wir dürfen Vergebung erhoffen, Gottes geduldige „Nachhilfe“ – unter der Bedingung, dass auch wir einander vergeben.
Wir leben in einer Welt, die uns das Leben nach dem Evangelium nicht leicht macht. Das erfahren wir oft als Versuchung und Verwirrung. Wir bitten den Vater unser aller, dass er uns aus allem herausführt, was gegenläufig ist, was uns behindert, den Weg zu gehen, der er uns zeigt.
Das Vaterunser ist das Evangelium in Kürze. In Jesus begegnet uns der lebendige Gott. Wir dürfen ihn im Heiligen Geist (vgl. Gal 4,6; Röm 8,15) wie Jesus mit „Vater“ ansprechen. Wir bitten, dass sein Plan mit uns sich vollende, dass er uns vergibt, wenn wir sündig geworden sind, wenn wir auch bereit sind, einander zu vergeben.
Josef Weismayer, Em. Professor für Systematische Theologie, Wien
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort.Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 1/21 publiziert worden. Bei Interesse können Sie hier die Zeitschrift bestellen.