Wüstenerfahrungen 1. Lesung: Jes 35,1-6b.10| 2. Lesung: Jak 5,7-10| Evangelium: Mt 11,2-11
Immer wieder spielen Wüstenerfahrungen eine zentrale Rolle im Glauben Israels. Der Advent greift es mehrmals auf. Letzten Sonntag hörten wir von Johannes der Täufer und seinem Auftreten in der Wüste. Heute hören wir von Jesaja: Die Wüste und das trockene Land sollen sich freuen, die Steppe soll jubeln und blühen. Wir wissen um Israels vierzigjährige Wüstenwanderung ins gelobte Land. Jesus geht nach der Taufe vierzig Tage in die Wüste und wird da versucht.
Es ist ein häufig wiederkehrendes Motiv in der Geschichte Israels, nämlich die Erfahrungen von Wüste und dem sich darin formenden Glauben. Vielleicht kann uns die heutige Lesung zu einer Hilfe werden, mit Wüstenerfahrungen umzugehen.
Zur Situation: Jerusalem ist gefallen und der Tempel zerstört. Ein Großteil der Bevölkerung, der Priesterschaft und der König sind auf dem Weg in die Verbannung nach Babylon. Ihnen allen steht eine schwere Zeit bevor: eine Zeit der Wüste. Verständlich ist, dass ihnen der Glaube in die Zukunft abhandengekommen ist.
Jesaja gibt keine Vertröstungen oder Versprechungen. Es steht ihnen ein Weg durch die Wüste mit großen Herausforderungen bevor. Jesaja fordert die Wüste auf – nicht die Menschen – sich zu freuen und zu jubeln. Die Wüste und das trockene Land sollen sich freuen. Menschen können sich nicht auf Geheiß freuen. Sie in einer misslichen Lage aufzufordern, sich zu freuen, zu lachen oder fröhlich zu sein, wäre wohl verletzend, wenn nicht sogar zynisch. Der Prophet Jesaja tut es nicht, sondern er kündigt an, dass in dieser kommenden, widrigen Zeit Freude aus der Wüste wachsen wird. Es wird Grund zur Freude und zum Jubel geben, weil Gott nahe ist und handeln wird. Er füllt diesen Weg durch die Wüste mit Leben – mit Lebensfreude – an. So kann er den Wegziehenden zusagen: Habt Mut, fürchtet euch nicht!
Der Prophet kann Israel den Weg ins Exil nicht ersparen. Er trägt ihnen aber auf, sich auf diese neue, herausfordernde Zeit einzulassen, in die neue Zeit zu gehen, nicht in der Vergangenheit und im Bisherigen trauernd stehen zu bleiben. Sie gehen einer Zeit der Entbehrungen entgegen, sie werden aber auch wieder viel Grund zur Freude haben. Sie erleben die Herrlichkeit des Herrn. Mit „Herrlichkeit“ ist die Wucht der Liebe Gottes, seiner Zuwendung, seines Ruhmes und seiner Ehre umschrieben.
„Einen Weg durch die Wüste gehen“ steht als Bild für unterschiedliche Lebenssituationen: Es kann die Situation nach der Diagnose einer Erkrankung sein, nach dem Bruch einer Beziehung oder Partnerschaft, nach dem Verlust eines Menschen, nach einem Berufswechsel oder nach der Pensionierung, … Vielen sind solche Erfahrungen wie ein Weg durch die Wüste.
Jesaja sagt zu den Wegziehenden: Habt Mut, fürchtet euch nicht! Seht, hier ist euer Gott! Dann folgt ein Satz, der zu großen Missverständnissen geführt hat, weil er ohne den weiteren Zusammenhang gelesen wurde: Die Rache Gottes wird kommen und seine Vergeltung. Es löste öfters das Missverständnis aus, dass uns im Ersten Testament der Gott der Rache und Vergeltung begegnen würde.
Jesaja spricht zu den Wegziehenden, die alles verloren haben: Hab und Gut, die Freiheit, ihre Rechte und Würde. Sie sind auf dem Weg zur Heimatlosigkeit und der Großteil zum Sklavenmarkt. Sie tragen Ohnmachts-, Rache- und Vergeltungsgefühle mit sich. Wir wissen, wenn Menschen sich zu rächen beginnen, wird es gefährlich, lebensgefährlich. Rache- u. Vergeltungsgefühle brauchen ein Ventil, damit sie sich nicht gegen andere und sie sich auch nicht gegen die eigene Person richten in Form von Verbitterung oder völliger Resignation. Der biblische Mensch vertraut die Rache- und Vergeltungsgefühle Gott an. Gott soll meine Rache übernehmen. Die Rache Gottes wird kommen und seine Vergeltung.
Jesaja führt aus, worin die Rache Gottes besteht: er selbst wird kommen und euch erretten. Wenn Gott in „seiner Rache“ kommt, beginnt ein Heilsgeschehen: die Augen der Blinden werden geöffnet, die Ohren der Tauben werden geöffnet. Der Lahme springt wie ein Hirsch, die Zunge des Stummen jauchzt auf.
Jesaja gibt den Wegziehenden zu verstehen: Ihr habt Wüste vor euch, aber es ist zugleich ein Ort, beziehungsweise eine Zeit, in der sehr viel Heilsames geschehen wird.
Wenn wir genauer hinschauen, geht es um die Heilung der Sinne: Augen, Ohren, Zunge, Gelähmtes oder Steifes. Ohne intakte Sinne ist das Zusammenleben gestört, ja unmöglich. Es ist ihnen zugesagt, wenn sie sich auf die Wüste einlassen, werden sie lernen neu zu sehen und zu hören. Es wird ein anderes, neues Leben möglich. Es werden neue Beziehungen, neue Freundschaften, u.a. wachsen.
Zeiten der Wüste sind oft mit großen Entbehrungen, Unsicherheiten und Herausforderungen verbunden. Der Prophet Jesaja ermutigt, solche Zeiten mit dem Vertrauen anzunehmen, dass Gott mitgeht, rettend und heilend.
Daran erinnert Jesus jene Jünger, die Johannes mit der Frage zu ihm sandte: Ob er der sei, der kommen soll? Jesus weist ihn anzusehen, dass bereits jetzt das rettende Handeln Gottes gegenwärtig ist.
Wenn Sie den Text der 1. Lesung aus dem Buch Jesája anhören möchten:
Wenn Sie den Text der 2. Lesung aus dem Jakobusbrief anhören möchten:
Wenn Sie den Text aus dem heiligen Evangelium nach Matthäus anhören möchten:
Ein Kommentar zu “Wüstenerfahrungen 1. Lesung: Jes 35,1-6b.10| 2. Lesung: Jak 5,7-10| Evangelium: Mt 11,2-11”
Sehr aufschlussreich und hilfreich finde ich den Hinweis, dass Gott die „Wüste“ und nicht die Menschen auffordert zu jubeln und zu blühen. Uns lässt er die Freiheit bzw. macht zur Aufgabe, nicht im allgemeinen und so beliebten „Jammern“-Tal zu verharren, sondern unsere Blickrichtung zu ändern und Gottes „Fingerzeige“ richtig zu deuten und daraus Zuversicht, Kraft und Freude zu schöpfen
Hugo v. Hofmannsthal drückt das so aus:
„Es gibt viel Trauriges in der Welt und viel Schönes.
Manchmal scheint das Traurige mehr Gewalt zu haben als man ertragen kann.
Dann stärkt sich indes leise das Schöne und berührt wieder unsere Seele.“
Ist dafür nicht auch jetzt die Zeit gekommen?