Heilsames Selbstbekenntnis 1. Lesung: Sir 35,15b-17.20-22a| 2. Lesung: 2 Tim 4,6-8.16-18| Evangelium: Lk 18,9-14
Der Text des heutigen Evangeliums veranschaulicht wunderbar, was Jesu Anliegen war. Er wollte den Menschen verdeutlichen, wie sehr er auf dem Boden der hebräischen Bibel steht und will dieser wunderbaren, alten Botschaft neues Leben einhauchen. Er ist der Tora-Ausleger schlechthin. Er tut, was auch wir tun sollten, nämlich den Inhalt, die Botschaft ins Heute zu übersetzen, mit Bildern anzureichern, die die Menschen nachvollziehen können und ihre Lebenserfahrung einbeziehen. Erkennbar wird dieses Wirken Jesu im Kontext der heutigen Texte aber nur, wenn man die Passagen davor und danach miteinbezieht.
Am Beginn der Passage aus dem Buch Jesus Sirach wird dargelegt, „wer das Gesetz hält, bringt viele Gaben dar, ein Heilsopfer, wer die Gebote hält“. Jeder der im Leben Gaben erhalten hat, soll Opfer darbringen – die Menschen, die sich an diese Gebote des Gotteslobes und -dankes halten, werden als Gerechte bezeichnet. „Denn der Herr ist einer, der vergilt und der wird dir siebenfach vergelten“, wenn das Opfer in der rechten inneren Haltung dargebracht wird. Es geht also um das Zusammenwirken von innerer Haltung und Opfer. Das Opfer ist also „nur“ das äußere Zeichen.
Der HERR wird als Richter beschrieben, bei dem es kein Ansehen der Person gibt. „Er bevorzugt niemanden gegenüber einem Armen …“. Ausdrücklich wird nun der Hilferuf einer Witwe hervorgehoben: „Er missachtet nicht den Hilferuf der Waise und die Witwe, wenn sie ihren Jammer ausschüttet. Fließen nicht Tränen der Witwe über die Wangen und richtet sich der Schrei nicht gegen den, der sie hinabfließen ließ?“ Genau hier setzt nun Jesus an und zwar genau mit jenem Halbsatz, der in der Leseordnung ausgelassen wird: „und richtet sich der Schrei nicht gegen den, der sie hinabfließen ließ?“
Vor dem Text des heutigen Evangeliums wird die Geschichte jener Witwe erzählt, die lange Zeit auf die Rechtssprechung durch einen Richter warten muss. Sie bedrängt ihn so sehr, geht ihm so auf die Nerven, dass er dann der Einfachheit halber doch eine Entscheidung fällt. Es ist ihr Bedrängen des Richters, das ihr schlussendlich zum Recht verhilft.
Man könnte den Eindruck haben, auch hier gilt die Zusage Gottes, den Menschen als freies Wesen mit einem freien Willen geschaffen zu haben. Zuerst gilt es also, jenem Menschen eine Chance der Wiedergutmachung zu bieten, der im Zusammenhang mit dem Leid steht, entweder weil er es direkt verursacht hat oder keinen Beitrag zur Linderung leistet. Zuerst liegt es an den Menschen, recht zu handeln und dies meint, Gott zu fürchten, Rücksicht auf Menschen zu nehmen und für Recht und Gerechtigkeit zu sorgen. Es bedeutet, sie in die Pflicht zu nehmen. Es ist aber auch eine klare Absage, an eine Bedienmentalität. Es braucht den persönlichen Aufstand – auch im Anrufen Gottes. Es gilt die eigene Stimme zu erheben, zu deklarieren, was man benötigt und die Zuständigen in die Verantwortung zu nehmen. Er wird’s schon richten, er wird mir meine Wünsche von den Augen ablesen – das ist nicht gemeint. In der Psychotherapie ist es ein wichtiger Ansatz, dass Gefühle wahrgenommen und ausgesprochen werden. Dies sei der Ausgangspunkt für eine Stärkung des Selbstwertgefühls durch zugelassene Tränen, Hilfsbedürftigkeit und Ängste. Damit bröckle das angestrengte Bemühen, eine Fassade aufrecht zu erhalten. Zu sich selbst stehen, macht stark. Dies war und ist die Absicht der Ohrenbeichte. Sie ermöglicht es, mit einer Person des persönlichen Vertrauens – ursprünglich bei den Wüstenmüttern oder -vätern – Fehlverhalten, das einen drückt in einem Gespräch absoluter Vertraulichkeit aussprechen und ansprechen zu können.
Der Zöllner im heutigen Evangelium legt so ein Selbstbekenntnis ab. Der Pharisäer hingegen geht davon aus, alles richtig zu machen. Das Gebet ist lediglich ein sich selbst auf die Schulter klopfen. Wer kann schon so gewiss sein, in Handlungen des täglichen Lebens nicht wie die anderen Menschen zu sein und damit fehlerhaft? Jesus Sirach versucht zu beschreiben, welche Gebete Gott hört: „Wer Gott wohlgefällig dient, wird angenommen und seine Bitte dringt bis in die Wolken. Das Gebet eines Demütigen durchdringt die Wolken, und bevor es nicht angekommen ist, wird er nicht getröstet und er lässt nicht nach, bis der Höchste daraufschaut.“
Gebete sind ein Schrei nach der Gerechtigkeit Gottes, wenn keine Hoffnung mehr in Sicht ist, wenn von den Menschen keine Hilfe zuwächst oder zu erwarten ist oder die eigene Kraft für eine Verhaltensänderung nicht ausreicht. Die Psalmen singen im wahrsten Sinn ein Lied davon.
Mit den Textpassagen aus dem Lukas-Evangelium legt Jesus die Worte aus Jesus Sirach aus, erfüllt sie mit Leben und schafft mit diesen Geschichten aus der Lebenswirklichkeit der Menschen neue Erzählbilder. Jesus versucht es mit Gegebenheiten seiner Zeit. Die Zöllner waren eine verhasste Gruppe. Im römischen Reich wurden Gebiete an Zollpächter verpachtet, die durch Zöllner Steuern und Gebühren eintreiben ließen. Die Pächter mussten eine festgesetzte Summe abgeben. Sie und die Zöllner standen im Ruf ihre Position auszunutzen und mehr einzunehmen, als vorgeschrieben oder erlaubt war. Sie galten als habgierig und unerbittlich.
Jesus Sirach sagt: „Und er wird für die Gerechten entscheiden und ein Urteil fällen“. Für die Gerechten, nicht für die Selbstgerechten – den frommen Pharisäer. Gerecht ist die innere Haltung des „verhassten“ Zöllners: der Selbstkritik, des inneren Haderns und Diskurses, der Demut und der Gewissensprüfung. Wenn die Psychotherapie davon ausgeht, dass aus einem Bekenntnis Selbstwert entsteht, kann man schlussfolgern, dass jener Mensch Selbstwert im Glauben gewinnt, der weiss, dass Fehlen zum menschlichen Dasein und Wesen gehört und sich in dieser Demut an Gott wendet. Die Erzählung von der Witwe und dem Richter endet mit der Aussage: „Sollte Gott seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm schreien, nicht zu ihrem Recht verhelfen, sondern bei ihnen zögern? Ich sage euch: Er wird ihnen unverzüglich ihr Recht verschaffen. Wird jedoch der Menschensohn, wenn er kommt, den Glauben auf der Erde finden?“ und dann setzt die Erzählung des heutigen Evangeliums ein.
Jesus erhofft sich also jenen Glauben, dessen Selbstwert darin besteht, dass man um seine Fehlerhaftigkeit weiß und mit ihr immer wieder aufs Neue ringt. „Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt nach Hause hinab, der andere nicht. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, wer sich aber selbst erniedrigt, wird erhöht werden“. Die heutigen Texte sind ein schönes Beispiel, wie sehr Erstes und Zweites Testament ineinander verwoben sind und wie sehr es das Anliegen Jesu war, in seiner Deutung für die alten Texte der Tora aktuelle Bilder seiner Gegenwart zu finden. Neue Kommunikationsmittel, neue gesellschaftliche Rahmenbedingungen, veränderte Lebenswelten laden uns ein ähnlich kreativ zu sein und neue Deutungsgeschichten zu kreieren, die den Menschen die Aktualität der biblischen Erzählungen verdeutlichen können.
Wenn Sie den Text der 1. Lesung aus dem Buch Jesus Sirach anhören möchten:
Wenn Sie den Text der 2. Lesung aus dem zweiten Brief des Apostels Paulus
an Timótheus anhören möchten:
Wenn Sie den Text aus dem heiligen Evangelium nach Lukas anhören möchten: