„HERR: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.“ Eine Vertiefung von Walter Kirschschläger
Rainer Maria Rilke hat dem Gedicht die Überschrift „Herbsttag“ gegeben. Mit diesem Hinweis auf die verschiedenen Zeiten öffnet der Dichter eine weite Palette von Verstehensmöglichkeiten, in die wir uns beim Lesen und Bedenken seiner Poesie einfügen können.
Die Zeiten des Jahres
Seit Menschengedenken wiederholt sich im Leben von Natur, Welt und Mensch die regelmäßige Abfolge der Jahreszeiten: Frühling – Sommer – Herbst – Winter, in unserem Lebensraum in diesem Teil der Erde weitgehend gut voneinander abgrenzbar. Wachsen und Blühen, Frucht bringen und Ernte, zur Ruhe kommen und in Stille Neues vorbereiten prägt den jährlichen Ablauf und Kreislauf der Natur. Unzählige Male erleben wir dies, je nach Lebensalter und Aufmerksamkeit in unterschiedlicher Intensität. Wir nehmen Unregelmäßigkeiten wahr, kommentieren auffallende Abweichungen und leben in dieser wiederkehrenden Abwechslung – dankbar für die Vielfalt, da und dort wohl auch bemüht, den Wechsel in Klima und Sonnenintensität, in Kälte und Hitze, Trockenheit oder Übermaß an Niederschlägen gut zu bewältigen, wohl wissend, dass diese Abfolge nicht in unserer Hand liegt, zugleich mit wachsendem Bewusstsein dafür, dass wir für Extremsituationen vielfach mitverantwortlich sind.
Die Zeiten des Jahres beeinflussen unser Wohlbefinden, und sie stehen in Wechselwirkung zu unserem täglichen Brot. Es verwundert nicht, dass seit frühester Zeit Gottheiten am Schalthebel dieser Zeitenfolge vermutet wurden. In der biblischen Tradition des Judentums und des Christentums wird hinter den Naturphänomenen, die den Lauf der Zeiten beeinflussen, der eine große Gott erkannt, der den Zyklus des Naturlaufs eingerichtet hat (vgl. Gen 1). Zu Recht eröffnet Rilke sein Gedicht also mit der Anrede „Herr:“ Die ungewöhnliche Schreibweise löst die Anrede aus dem Geschlechterdisput heraus und verbietet das Missverständnis einer klassischen Herrschaftsvorstellung. Zugleich lässt sie unmissverständlich erkennen, dass der Dichter damit den einen großen Gott anspricht.
Die Zeiten meines Lebens
Es ist nicht neu, den Wechsel der Jahreszeiten auf das eigene Leben zu übertragen. Besonders der Rückblick auf die hinter mir liegenden Jahre ermöglicht eine genauere Einordnung: des jugendlichen Frühlings; des Sommers, in dem mein Leben zur persönlichen und beruflichen Entfaltung kommt und da und dort gleich einer „Ernte“ Signale des Gelingens erkennbar werden; des Herbstes, der diese kreative Schaffensphase abschließt und da und dort veredelt, indem „noch zwei südlichere Tage“ die Früchte voll machen und „die letzte Süße in den schweren Wein“ gejagt wird (wie Rilke das in seiner präzisen Bildsprache umschreibt); schließlich die Einordnung des Winters – als Zeit des Loslassens, der Ruhe und des Absterbens der Natur.
Wer so sein Leben in den Blick nimmt, wird daran erinnert, dass alles „seine Stunde“ hat und es „für jedes Geschehen unter dem Himmel … eine bestimmte Zeit gibt“ (Koh 3,1), die nicht zurückgeholt werden kann – wie eben ein Rückgriff auf den Frühling im Sommer nicht mehr möglich ist und der Sommer nicht in den Herbst oder Winter nachverpflanzt werden kann. Die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit des Augenblicks, der Stunde und des Tages gehört zu den Grunderfahrungen meines Lebens. Eindringlich mahnt der Dichter, die Möglichkeiten zeitgerecht zu nutzen. Denn „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben“. „Nütze die Gelegenheit“, sagt das Sprichwort, und der römische Dichter Horaz (65 bis 8 v. Chr.) rät: „Pflücke den Tag“ (carpe diem).
Gut, wenn mir der Rückblick bewusst macht, in welchem Abschnitt des Lebens ich stehe. Zwar gibt es – wie in der Bestimmung der Jahreszeiten – feste Berechnungsregeln und definierende Abgrenzungen, Aber wir wissen auch um die Unregelmäßigkeit der Jahreszeiten: langer Winter, kurzer Frühling, kalter Sommer … Gerade der ältere Mensch wird gut daran tun, die eigene Situation und den Standort im Leben ehrlich abzuschätzen und einzuordnen.
Der Sommer war sehr groß
Nur scheinbar mag das zu Melancholie oder Traurigkeit verleiten, eher zu dankbarer Erinnerung an das Erlebte: Da wird für die einen eben dieser „sehr große“ Sommer bewusst, für andere der prägende Frühling, für viele vielleicht der reife Herbst, der noch „volle“ Früchte, „südlichere Tage“ und „letzte Süsse“ gebracht haben mag, oder auch Zeit zum Lesen, zum Schreiben, zum Gehen durch die Alleen, die den Blick auf einen weiten Horizont öffnen. Es wäre müßig, über die unterschiedliche Höhe des Sommers und die Dauer des Herbstes zu rechten, denn wir gebieten weder über die Zeit noch über das Leben.
Wir wissen: Kein Menschenleben gleicht dem anderen, jedes Menschenleben führt durch den Tod, aber auch jeder gelebte Tod ist einzig. Mit allem, was wir darüber denken, schreiben, stammeln, wissen wir uns hingestellt vor den Einen, der hinter dieser Ordnung des Jahres, des Lebens, der Welt steht, und der uns in jedem Moment unseres Lebens und Sterbens hält, auch wenn einmal „die Schatten auf die Sonnenuhren“ gelegt sind: Denn er hat uns „beim Namen gerufen“ und hat uns ermutigt: „Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir“ (Jes 43,1.5), und außer ihm gibt es keinen Gott (vgl. z. B. Jes 44,6.8; 46,9).
Rilke hat also Recht, wenn er sein Denken über den Herbsttag an diesen einen großen Gott richtet, der über allem steht und der allein letztlich in diesem Zusammenhang anzusprechen ist:
„Herr:“ …
Zur Vertiefung kann das Verweilen beim angesprochenen Gedicht helfen.
Walter Kirchschläger
Em. Professor für Neues Testament, Luzern
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort – Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 4/18 publiziert worden.