Das Herz befragen 1.Lesung: Dtn 30,9c-14| 2.Lesung: Kol 1,15-20| Evangelium: Lk 10,25-37
Im Judentum spricht man nicht von den zehn Geboten, sondern von den zehn Worten bzw. Weisungen. Das nimmt gleich schon etwas Druck aus der ganzen Sache und entspricht dem Wesen Gottes wohl eher.
Mose wendet sich am Ende der Wüstenzeit an das Volk und fasst die wesentlichsten Erfahrungen zusammen. Er legt ihnen die Weisungen Gottes nochmals nahe und will sie ganz bewusst nicht als etwas Unerreichbares oder Überirdisches erscheinen lassen. „Denn dieses Gebot, auf das ich dich heute verpflichte, geht nicht über deine Kraft und ist nicht fern von dir“ (Dtn 30,11). Die Weisungen, recht betrachtet, könnte man auch als geronnene Lebensweisheiten betrachten. Sie sind ein gewachsener Erfahrungsschatz des Volkes der Hebräer mit ihrem Gott. Mose geht es auch darum, keinen Gesetzeskodex zu kreieren. Es soll nicht die Geburtsstunde der Juristerei sein. Er weist darauf hin, dass man zum Verständnis der Weisheiten keinen Fachverstand haben muss: „Nein, das Wort ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten“ (Dtn 30,14). Man braucht also kein Nachschlagewerk, keine juristische Auslegung, sondern man soll sein Herz befragen. Es ist also eben kein starrer Gesetzestext, sondern es bedarf der Prüfung des Einzelfalles.
Wie schwierig es ist, eben diese zehn Worte nicht als Gesetz zu nehmen, sondern als Befragung des Herzens, das erzählt Jesus mit dem Gleichnis des barmherzigen Samariters. Der Weg von Jerusalem nach Jericho war mitunter steil, ging teilweise durch Wüstengebiet, war abgelegen und daher mit einigen Gefahren verbunden. Auf solch unsicheren Wegen ist Eile angesagt. Beide – der Priester und auch der Levit – strebten von ihrem Tempeldienst am Schabbat zurück nach Hause. Der Mann, der von den Räubern überfallen wurde, war vermutlich auch auf dem Rückweg vom Tempel – war also ein Glaubensbruder. Der Samaríter war nicht im Rahmen irgendwelcher religiöser Pflichten unterwegs, er war – man darf vermuten – auf Geschäftsreise.
In diesem Gleichnis stehen sich damit gegensätzliche Welten gegenüber. Die reale Geschäftswelt bzw. das weltliche Leben dem Leben von „Berufenen“ zum Tempeldienst bzw. zum geistlichen Leben. Auf der einen Seite die korrekte Glaubenslehre durch den Priester und den Leviten, die eindeutig bestimmten Stämmen des Judentums entstammten. Auf der anderen Seite der abtrünnige Glaube. Der Samariter war mit heutigen Worten Anhänger einer Sekte.
Der Samariter entschloss sich dem Verwundeten zu helfen und ihn nicht einfach liegen und sterben zu lassen. Er beugte sich zu jemandem hinab, von dem er in einer anderen Situation vermutlich Verachtung erfahren hätte. Der verletzte Jude musste erkennen, dass seine Glaubensbrüder über ihn hinweggesehen hatten und sich nun von einem „Unreinen“ verarzten lassen.
Die Samariter waren verachtet, weil sie Gott nicht im Tempel in Jerusalem verehrten, sondern in einen Tempel auf dem Garizim-Plateau. Ein großer Kritikpunkt war aber auch, dass sie „lediglich“ die fünf Bücher Mose als heilige Schriften akzeptierten. Sie lehnten die Schriften der Propheten und alle jüdischen Traditionen ab.
Jesus erzählte das Gleichnis, weil er von einem Gesetzeslehrer auf die Probe gestellt wurde. Dem Gesetzeslehrer war das Leben Jesu suspekt. Er aß und trank mit Sündern, näherte sich Unreinen oder ließ sich von ihnen berühren. Er wollte Jesus mit der Gesetzesauslegung in die Enge treiben. „Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben? Jesus sagte zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? Er antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst. Jesus sagte zu ihm: Du hast richtig geantwortet. Handle danach und du wirst leben! (Lk 10,25-28). Nun folgt eine für einen Gesetzeslehrer peinliche Frage: „Und wer ist mein Nächster?“ (Lk 10,29), denn sie bescheinigt ihm, dass er von den vielen biblischen Texten eigentlich nichts verstanden hat. Betrachten wir die Fülle der Erzählungen, so beschäftigen sich ganz viele eben mit der Frage des Nächsten, beginnend bei Kain und Abel, Abraham und Lot, Abraham und Sara, Lea und Rahel, Noomi und Rut oder Rut und Boas usw. All diese Texte beschäftigen sich mit der Frage, wer ist mir gerade mein Nächster oder meine Nächste? Was tue ich ihnen Gutes oder Schlechtes an? Der Lehrer hatte sich also in seiner Gesetzesauslegung verrannt. Er hat zwar die Gesetzestexte durchleuchtet, aber er hat von den biblischen Texten nicht sein Herz anrühren lassen. Der Samariter kannte zwar „nur“ eine verkürzte schriftliche und mündliche Tora, aber er hatte sein Herz berühren lassen. Der verstorbene Frère Roger, Gründer und Prior der ökumenischen Communauté de Taizé, meinte einmal: „Lebe das, was du vom Evangelium verstanden hast. Und wenn es noch so wenig ist. Aber lebe es.“ Genau das hatte er getan.
Der Evangelist Lukas klärt damit auch gleich, was es mit den Seligpreisungen auf sich hatte, denn am Beginn des Kapitels, zu dem auch die heutige Erzählung gehört, möchte Jesus auf der Durchreise bei den Samaritern nächtigen. Sie nahmen ihn aber nicht auf. Die Jünger Jakobus und Johannes wollten Feuer vom Himmel fallen lassen und sie vernichten. Jesus zog einfach weiter und macht im heutigen Gleichnis einen Samariter zum Paradebeispiel von gelebter Nächstenliebe.
Mose verpflichtet am Beginn seiner Ansprache das Volk auf die Gebote. Er macht aber deutlich, dass diese keine reinen Gesetzestexte sind, kein sturer Leitfaden, sondern eben Weisungen, die situationsbedingt geprüft werden sollen. Sie bestehen aus dem Wechselspiel des Lesens des Textes und dem Hören auf die Stimme Gottes: „Liebe den HERRN, deinen Gott, hör auf seine Stimme und halte dich an ihm fest; denn er ist dein Leben“ (Dtn 30,20). So wird man erkennen: „Nein, das Wort ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten“ (Dtn 30,14). Der Priester und der Levit waren in Eile. Das Gesetz hatten sie schnell abgearbeitet. Das Blut des Verletzten hätte sie unrein gemacht. Das Herz zu befragen, hätte Zeit verschwendet. Unsere Zeit ist immer schnelllebiger. Es ist einfach Gesetze aus der Schublade zu ziehen und auf Menschen anzuwenden, die Befragung des Herzens bräuchte etwas mehr Zeit.
Wenn Sie den Text der 1. Lesung aus dem Buch Deuteronómium anhören möchten:
Wenn Sie den Text der 2. Lesung aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Kolóssä anhören möchten:
Wenn Sie den Text aus dem heiligen Evangelium nach Lukas anhören möchten:
In unseren Gedanken zu den Texten der Sonntage haben wir schon öfter auf die Problematik von Textauslassungen hingewiesen. Wir wollen einen Versuch starten und werden ab dem Beginn des neuen Lesejahres die Texte in der Länge der biblischen Verfasser lesen.
Seit Jahrhunderten beeindruckt die Bibel Menschen mit ihren Formulierungen. In der Zeit ihrer Entstehung für jeden verständlich brauchen Leserinnen und Leser von heute eine Übersetzung dieser Texte. Jede Übersetzung ist in gewisser Weise auch eine Deutung der Schrift. Die Einheitsübersetzung ist uns bereits vertraut. Wir wollen bewusst mit Beginn des neuen Kirchenjahres eine andere Übersetzung verwenden, um uns neu von den Texten überraschen zu lassen. Wir haben uns für die Übersetzung der BasisBibel entschieden, die seit Januar 2021 vollständig vorliegt. Die BasisBibel ist die Bibelübersetzung für das 21. Jahrhundert: klare Sprache, kurze Sätze und verständliche Sprache.