Löser und Erlöser 1.Lesung: Ijob 19,1.23-27a| 2.Lesung: 1 Thess 4, 13–18| Evangelium: Joh 11, 17–27
Der Allerseelentag umgibt eine gedämpfte Atmosphäre. Wir besuchen die Gräber der Lieben, gedenken der Verstorbenen und beten für sie. Manches Gedenken erfüllt mit großer Dankbarkeit, anderes mag mit Wehmut und Schmerz verbunden sein. „Herr, lasse sie ruhen in Frieden!“, ist nicht nur ein Wunsch für Verstorbene, es ist auch die Einladung an ein Gedenken ohne Verbitterung, nämlich Verstorbene in Frieden loszulassen.
Der Allerseelentag erinnert uns an die Vergänglichkeit und zugleich Einmaligkeit des Lebens. Diese Einmaligkeit gibt dem Leben eine besondere Würde und Dramatik. Es gibt kein Leben auf Probe. Jeder Tag ist Ernstfall des Lebens und stellt Fragen: Wohin geht es mit mir? Welcher Sinn hat mein Leben und welchen Sinn gebe ich ihm? Das Leben ist begrenzt. Was tut das mit mir?
Vielleicht ergibt sich die Möglichkeit heute in den Familien über diese Themen, Gedanken und Fragen ins Gespräch zu kommen. Bei meinen weiteren Überlegungen bin ich beim Satz aus dem Buch Ijob hängen geblieben: „Ich weiß: Mein Erlöser lebt“ (Hiob 19,25a). Es ist ein Satz, der beinahe platt daherkommt und wie ein Vertrösten wirkt, vor allem dann, wenn die Hintergründe außer Acht gelassen werden.
Ijob lebt zunächst als angesehener Mann. Er ist begütert, gesund und hat zehn Kinder. Es wird ihm alles genommen, Hab und Gut, die Kinder und zuletzt erkrankt er an Aussatz. Es kommen Freunde und besuchen ihn. Sieben Tage schweigen sie. Es fehlen ihnen die Worte. Dann beginnt Ijob zu klagen. Er klagt vor allem Gott an. Diese Klage wird den Freuden zu stark, zu hart. Sie argumentieren dagegen.
Es ist ein Hin und Her zwischen Ijob und den Freunden. Der Lesung gehen Gedanken des Ijob voraus, von denen ich einige zitiere: Erkennt doch, dass Gott mich niederdrückt. Seht! Schreie ich: Gewalt!, ich erhalte keine Antwort, rufe ich um Hilfe, gibt es kein Recht. Meine Brüder hat er von mir entfernt, … Meine Verwandten, Bekannte und Freunde haben mich vergessen. Mein Atem ist meiner Frau zuwider; meinen Brüdern ekelt vor mir. Selbst Unmündige verachten mich, ich werde verhöhnt; die ich liebe, lehnen sich gegen mich auf. Ich bin nur noch Haut und Knochen. Schließlich fleht er die Freunde an: Erbarmt, erbarmt euch meiner! Warum verfolgt ihr mich wie Gott? (Vgl. 19,6-22).
Ijob erlebt sich als Mensch, dem alles zum Feind, zur Feindschaft wird: die Familie, die Gäste, die Freunde, er sich selbst und zuletzt auch Gott. Seine Klage richtet sich vor allem gegen IHN – Gott. Ijob erlebt eine Situation, in der ihm alles fremd wird. Man könnte auch sagen, in der er weder sich noch die Welt versteht. Es wirkt alles so sinnlos, so sinnentleert – das Dasein, das Leben. Er ist enttäuscht von den Menschen, die ihm so wichtig waren und sind. Er ist auch enttäuscht von Gott, an den er glaubt. Wie groß diese Enttäuschung ist, zeigt sich eben im Ausmaß und in der Heftigkeit seiner Klage.
Dieses Gespräch zwischen Ijob und den Freunden erfährt eine besondere Pointe als nämlich ein junger Gesprächspartner – wohl noch ohne Lebenserfahrung – mit Namen Elihu hinzukommt. Er ist überzeugt, dass das erfahrene Unglück von Ijob Folge einer Mahnung, Zurechtweisung und Prüfung Gottes sei (Vgl. Ijob 32 37). Es ist dann Gott selbst, der nicht den Freunden mit ihren scheinbar gottgefälligen Reden Recht gibt, sondern doch Ijob, der klagt und das offene Wort mit Gott gesucht hat (Ijob 42,7-9).
Nochmals zurück zur Lesung, zum Gedanken des Ijob: „Ich weiß: Mein Erlöser lebt.“ Wir dürfen festhalten, dass die Klage, das Anklagen ein wichtiger Teil des Gebetes und des Glaubens sein dürfen oder sogar sollen. Wer soll uns denn verstehen, wenn nicht Gott? Ijob fordert Gott heraus. Eine Schule des (an-) klagenden Gebetes bieten Psalmen. In diesem Ringen mit Gott wächst der Glaube, vermag die Beziehung zu Gott reifen und neu werden. Heute ist es eher üblich Menschen zu klagen. Es mag manchmal notwendig sein, aber sie sind kein großer Beitrag zu einem guten Miteinander oder gar zu Freundschaften.
Mein Erlöser lebt. Gott ist Löser und Erlöser. Es begegnet uns viel Ungelöstes in der großen Welt. Es gibt vermutlich immer wieder Ungelöstes in der eigenen, kleinen Welt, sei es in der Familie, in der Schule, bei der Arbeit oder in der Freizeit. Manches lässt sich nicht lösen oder auflösen. Wir dürfen manchmal Dinge, Probleme, Fragen oder Umstände loslassen und dem Löser, beziehungsweise Erlöser anvertrauen. Vielleicht trägt es zu Geduld und einer gewissen Großzügigkeit bei und bewahrt vor einem verkrampften, verletzenden oder zerstörerischen Agieren in verhärteten Situationen. ER ist der Löser, der Erlöser.
Mein Erlöser lebt. Gott ist lebendig. ER sprengt meine Vorstellungen, Erwartungen und Bilder. ER ist lebendig in den gelebten Beziehungen. ER lebt in meinem Leben. Gott lebt in den Leben aller als Löser und Erlöser. Deshalb ist das Gebet – und die Klage gehört dazu – von großer Bedeutung und Wirkung. Auch wenn ich die Größe der Wirkung einem ANDEREN überlassen kann und darf, das klagende Gebet in einer Krise ist eine Quelle der Kraft und Resilienz.
Wenn Sie den Text der 1. Lesung aus dem Buch Ijob anhören möchten:
Wenn Sie den Text der 2. Lesung aus dem ersten Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Thessalónich anhören möchten:
Wenn Sie den Text aus dem heiligen Evangelium nach Johannes anhören möchten:
In unseren Gedanken zu den Texten der Sonntage haben wir schon öfter auf die Problematik von Textauslassungen hingewiesen. Wir wollen einen Versuch starten und werden ab dem Beginn des neuen Lesejahres die Texte in der Länge der biblischen Verfasser lesen.
Seit Jahrhunderten beeindruckt die Bibel Menschen mit ihren Formulierungen. In der Zeit ihrer Entstehung für jeden verständlich brauchen Leserinnen und Leser von heute eine Übersetzung dieser Texte. Jede Übersetzung ist in gewisser Weise auch eine Deutung der Schrift. Die Einheitsübersetzung ist uns bereits vertraut. Wir wollen bewusst mit Beginn des neuen Kirchenjahres eine andere Übersetzung verwenden, um uns neu von den Texten überraschen zu lassen. Wir haben uns für die Übersetzung der BasisBibel entschieden, die seit Januar 2021 vollständig vorliegt. Die BasisBibel ist die Bibelübersetzung für das 21. Jahrhundert: klare Sprache, kurze Sätze und verständliche Sprache.