Falsche Gesetzestreue 1. Lesung: Weish 1,13-15;2-23-24|2. Lesung: 2 Kor 8,7.9.13-15|Evangelium: Mk 5,21-43
Der heutigen Erzählung im Evangelium geht die Heilung eines Besessenen in Gerasa im römischen Besatzungsgebiet der Dekapolis am Ostufer des Sees Genezareth voraus. Sie versucht zu beschreiben, dass militärischer Gehorsam dämonisch werden und bis zum Tod, zur eigenen Vernichtung führen kann.
Leider kommt die Erzählung von der Heilung des Besessenen von Gerasa in der Leseordnung gar nicht vor und auch vom heutigen Teil des Evangeliums wird oft nur der zweite Teil gelesen. Das ist bedauerlich, denn sie gehören zusammen – nicht umsonst werden sie in der Bibel in einem Kapitel dargestellt.
Mit der heutigen Erzählung setzt Jesus ans andere Ufer des Sees über. Er kommt damit wieder in jüdisches Gebiet. Kaum angekommen stürzt ein Synagogenvorsteher auf Jesus zu und bittet ihn, seine im Sterben liegende Tochter zu heilen. In dem ganzen Tumult der Menschenmassen befindet sich eine Frau, die schon zwölf Jahre unter Blutfluss litt. Diese Frau musste ein erbärmliches Leben führen. Blutflüssig zu sein, bedeutete Unreinheit. Eine Teilhabe am familiären und gesellschaftlichen Leben war nicht möglich. In Israel gibt es heute noch eine kleine Gruppe Samaritaner – eine jüdische Splittergruppe. Im Unterschied zum Judentum kennen sie bis heute Tieropfer und das Hohepriestertum. Als Heilige Schrift sehen die Samaritaner lediglich die fünf Bücher Mose an. Die Bücher der Weisheit oder die Prophetenschriften gehören für sie nicht dazu. Wie streng die Regeln für Frauen zur Zeit Jesu waren, kann man dort noch erleben. In einem Ö1-Interview schildert eine Samaritanerin ihr Leben während der Regelblutung: „Ich muss während dieser Zeit vom Rest der Familie und der Gesellschaft separiert werden. Während meiner Regelblutung lebe ich in einem eigenen, abgetrennten Raum, schlafe in einem eigenen Bett, esse aus meinem eigenen Geschirr. Ich muss sieben Tage lang allein sein”. Dieses Tabu gilt auch für die Zeit, nachdem eine Frau ein Kind geboren hat. Sie muss 40 Tage lang nach der Geburt eines Sohnes und 80 Tage nach der Geburt einer Tochter vom Rest der Familie getrennt werden. Nicht einmal ihre eigenen älteren Kinder dürfen dann zu ihr. Eine schwierige Phase. „Manchmal falle es ihr schwer“, sagt Rania Samri.
So musste diese arme blutblüssige Frau nun schon 12 Jahre leben. Durch die Gesetzestreue kam damit unglaubliches Leid über sie und ihre Familie. Warum gehe ich davon aus, dass sie Familie hatte? Weil man die heutige Erzählung auch so lesen kann, dass diese blutflüssige Frau, die Ehefrau des Synagogenvorstehers und die Mutter des sterbenden Mädchens war, denn das Alter des Mädchens ist ebenso genau mit 12 Jahren angegeben. Diese Frau ist nach der Geburt des Kindes nie mehr „rein“ geworden.
Diese leidende Mutter erkannte die Chance und das wahre Leid ihrer Tochter. Sie wusste, dass ihr Kind nicht körperlich erkrankt war, sondern an gebrochenem Herzen litt. Dieses Mädchen wusste, dass es eine Mutter hat, konnte sie auch auf Distanz sehen, aber jedlicher Körperkontakt war verboten. Nicht umsonst hat diese Frau ihr ganzes Vermögen ausgegeben – schlicht und einfach aus dem Grund, ihr Kind sehen zu wollen. Diese Frau hätte sich gar nicht in dem Getümmel um Jesus aufhalten dürfen, schlich sich darum an ihn heran. Aus Höflichkeit und Rücksichtnahme berührte die Blutflüssige lediglich sein Gewand, um ihn nicht unrein zu machen. Danach war sie auf der Stelle geheilt. Jesus wollte diese Person finden, die seine Kraft gebraucht hatte und die Frau stellte sich. Nun kommt für mich eine wunderschöne Formulierung. Sie beschreibt das, was man ursprünglich vielleicht mit der sogenannten Ohrenbeichte beabsichtigt hatte: „sie sagte ihm die ganze Wahrheit“. Was für eine Wohltat muss das gewesen sein, einmal alles loswerden und loslassen zu können. Einfach einmal die GANZE Wahrheit, die Entäuschungen und Verletzungen erzählen zu können. Jesus antwortet darauf: „Meine Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden! Du sollst von deinem Leiden geheilt sein“. Dazu zwei Anmerkungen: Ihr Glaube, der ihr half im entscheidenden Moment, die Chance ihres Lebens zu ergreifen und die Gesetzestreue hintanzustellen, hat sie laut Jesus gerettet. Warum aber spricht ihr Jesus nochmals die Heilung zu? Zu diesem Zeitpunkt war sie ja nicht mehr blutflüssig. Weil er spürte, dass die Blutflüssigkeit „nur“ die Wurzel des Unheils war, ihr wahres Leid war die Trennung von ihrer Familie und ihrem Kind.
Nun kamen Leute aus dem Haus des Synagogenvorstehers und berichteten vom Tod seines Kindes. Vermutlich erkannten sie die Frau und es kam ihnen ungeheuerlich vor, dass sie – in ihren Augen immer noch unrein – bei Jesus ins Gespräch vertieft stand. Damit wäre ihnen lieber gewesen, wenn Jesus sicherheitshalber gar nicht mehr das Haus betreten hätte. Jesus antwortet dem Synagogenvorsteher: „Fürchte dich nicht! Glaube nur!“. Dieser wusste natürlich, dass er angesichts seiner Funktion in einer ganz prekären Situation gefangen war. Im Haus warf dann Jesus all die klagenden Menschen hinaus. Sie stehen der Familienzusammenführung mit ihrer Gesetzesauslegung im Wege. Lediglich drei Jünger, den Vater und die Mutter des Kindes – jene Personen also „die mit ihm waren“ – ließ er mit in das Zimmer des Kindes eintreten.
Die Anrede Jesu an das Kind, kann man unterschiedlich übersetzen: Entweder „Mädchen steh auf!“ oder „Lämmchen steh auf!“ Genau in dieser Doppeldeutigkeit liegt wohl die perfekte Anrede für diese Tochter, die sich gerade an der Schwelle befindet und noch etwas Lämmchen bzw. Kind ist und doch auch schon für sich selbst spürbar ein Geschlecht hat. Das Kind war zwölf Jahre alt. Möglich, dass das Mädchen gerade seine erste Regelblutung erlebte und Angst hatte, dass sie von nun an ein ebenso trostloses Leben zu führen hätte, wie die Mutter. Dieses Kind wurde von großen Sorgen geplagt, wusste, dass nun monatlich zumindest für einige Tage eine Absonderung erfolgen würde und nach einer Geburt ihr vielleicht das gleiche Schicksal blühen könnte wie ihrer Mutter. Das Mächen zog sich in sich zurück, wollte so nicht mehr sein und verlor allen Appetit aufs Leben. Nicht umsonst forderte Jesus dem Mädchen etwas zu essen zu geben. Die Mutter des Kindes hätte nach den geltenden jüdischen Regeln nach ihrer Heilung ein Reinigungsbad nehmen müssen, um wieder als rein zu gelten und das Zimmer betreten zu dürfen. Es war aber Eile angesagt. „Die Leute waren ganz fassungslos vor Entsetzen.“ Für sie war die Mutter immer noch unrein und vor lauter Gesetzestreue konnten sie die Heilung der ganzen Familie nicht annehmen.
Bei der Heilung eines Besessenen in Gerasa wurde beschrieben, wie schädlich es sein kann, wenn man sich durch einen dämonischen Gehorsam in Ketten legen lässt. Das heutige Evangelium erzählt, dass falsche Gesetzestreue, die den Menschen aus den Augen verliert, ihn in Ketten legt und zu Tode betrüben kann. Das Gesetz soll für das Volk Gottes ein Rahmen sein, das den Riten und dem gemeinsamen Leben dienlich ist. Alles soll dem Menschen dienen. Jairus meinte, dass eine Handauflegung Jesu das Mädchen heilen könne. Schlussendlich hat aber der Glaube des Vaters und der Mutter an die Worte Jesu die Familie zusammengeführt und geheilt. Damit war aber auch eine menschfreundliche Auslegung des Gesetzes durch Jesus verbunden. Einige Kapitel vorher antwortet Jesus geschickt: „Der Sabbat ist für den Menschen da und nicht der Mensch für den Sabbat“ (Mk 2,27). In diesem Sinne hat er nun auch gehandelt: Das Gesetz ist für den Menschen da und nicht der Mensch für das Gesetz. Wir durften auch erleben, was es bedeutet, wenn man die Heiligen Schriften auf das reine Gesetz verkürzt. Es ist gerade Ansinnen der prophetischen Bücher, mit ihren Gerichtsansagen das Heil Gottes zu verkündigen. Sie kündigen einen Messias an, der den Menschen Würde zuspricht, Frauen von ihren ausgegrenzten Rollen befreit, der als Erlöser ein Reich des Friedens und die wahre, nicht „nur“ eine Gesetzes-Gerechtigkeit bringt.
Wenn Sie den Text der 1. Lesung aus dem Buch der Weisheit anhören möchten:
Wenn Sie den Text der 2. Lesung aus dem Brief des Apostel Paulus an die Gemeinde in Korinther anhören möchten:
Wenn Sie den Text aus dem heiligen Evangelium nach Markus anhören möchten:
2 Kommentare zu “Falsche Gesetzestreue 1. Lesung: Weish 1,13-15;2-23-24|2. Lesung: 2 Kor 8,7.9.13-15|Evangelium: Mk 5,21-43”
Eine höchst interessante Auslegung des heutigen Evangeliums. So wie ihr das schildert, macht der Text einen ganz anderen Sinn.
Danke
…dass militärischer Gehorsam dämonisch werden und bis zum Tod, zur eigenen Vernichtung führen kann…
Schon für diese Vorbemerkung bin ich Dir sehr dankbar.
Und dann die (ein)leuchtende Auslegung der Bibelstelle!
Gehorsam war zu meiner Vorarlberger Zeit oberster kirchlicher Wert.
Gustl Elsensohn