Hinkend zwar, aber der Sonne entgegen. Oder: Nicht mehr kämpfen müssen Doris Appel stellt ihre besondere Bibelstelle Gen 32,23-33 vor
Keine einfache Wahl. Eine Jahrtausende alte Bibliothek voller Legenden, Mythen und Liebeslyrik, voller Weisheiten, Hoffnungsgeschichten und Seltsamem, das seltsam bleiben darf. Wofür sich entscheiden, frage ich mich. Eine frische Erkenntnis lässt mich nicht los – und einen dunkelschönen Text in einem neuen Licht erscheinen: Denk an Jakobs Kampf am Fluss Jabbok, höre ich die innere Stimme immer wieder. Die ganze Nacht (sein ganzes bisheriges Leben?) ringt Jakob, der Sohn Isaaks und Rebekkas, der Enkel Abrahams und Sarahs, mit einem Unbekannten. Bis er Segen erfährt und weiterziehen kann. „Hinkend zwar, aber der Sonne entgegen“, wie es heißt.
„In derselben Nacht stand er auf, nahm seine beiden Frauen, seine beiden Mägde sowie seine elf Kinder und durchschritt die Furt des Jabbok. […] Als er allein zurückgeblieben war, rang mit ihm EINER, bis die Morgenröte aufstieg. […] Jakobs Hüftgelenk renkte sich aus, als er mit ihm rang. DER sagte: Lass mich los; denn die Morgenröte ist aufgestiegen. Er entgegnete: Ich lasse dich nicht los, wenn du mich nicht segnest. DER fragte ihn: Wie ist dein Name? Jakob, antwortete er. DER sagte: Nicht mehr Jakob wird man dich nennen, sondern Israel – Gottesstreiter –; denn mit Gott und Menschen hast du gestritten und gesiegt. […] Dann segnete DER ihn […]“
Auch du bist nicht unversehrt geblieben, sage ich mir. Das Leben ist keine Spielerei, ist bei allem Schönen eine anstrengende Entwicklung, ein kräftezehrender Weg. Freilich, manches auf diesem Weg kann beflügeln, darunter Begegnungen, Kinder, Partner, Freundinnen, Kollegen … sie beglücken und stärken dich. Doch sie fordern eben auch Kraft, sind Quelle von Irrtum, eigenem Fehlverhalten und Schmerz. Und sie wollen verteidigt sein, die Kinder wie die Lebensthemen, für die du dich engagierst und mühst. Das Leben – ein Ringen um Verstehen und Verstanden-Werden, Wandlungs- und Reifeprozess. Initiation.
Und so kommst du an einen Punkt, an dem du erfährst, es darf geerntet werden. Fülle ist da und Segen. Es geht dir die Sonne auf. Du brauchst nicht immer zu kämpfen. Du darfst (dir) vertrauen.
Doris Appel, Leiterin ORF Religion RADIO (Sendungen von „Gedanken für den Tag“ und „Lebenskunst“ in Ö1 bis „Einfach zum Nachdenken“ in Ö3), Wien
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort – Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 3/19 publiziert worden.