Was Generationen eint 1.Lesung: Mi 5,1-4a| 2.Lesung: Hebr 10,5-10| Evangelium: Lk 1,39-45
In der Bibel werden an zahlreichen Stellen Geschlechterabfolgen – sogenannte Genealogien – aufgezählt oder man beruft sich allgemein auf die Vorfahren. Das Wissen, das von ihnen oder über sie weitergegeben wird, hat Bedeutung. Bald wird es niemanden mehr geben, der als Augenzeuge von den Erlebnissen des Zweiten Weltkrieges erzählen kann, oder keine Holocaustüberlebenden, die von ihrem Schicksal berichten können. Wer kann dann noch authentisch erzählen, was stattgefunden hat? Papst Franziskus warnte kürzlich: „Um Gottes willen, nein! Ohne Erinnerung geht es nicht voran, man entwickelt sich nicht weiter ohne eine umfassende und hellsichtige Erinnerung“.
Biblisch betrachtet ist der einzelne Mensch also nicht nur ein kleines Zahnrädchen in der Geschichte, sondern das, was man sagt und tut oder unterlässt, ist Vorbild oder mahnendes Beispiel.
Wir hören im Evangelium, dass Maria, zielgerichtet wie es scheint, zu ihrer Verwandten Elisabet eilt. Zu einer Frau, die unter ganz anderen Rahmenbedingungen lebt als sie selbst. Lediglich die Erfahrung der Schwangerschaft teilen sie. Elisabet war eine alte, lange verheiratete Frau. Sie lebte als Kinderlose ein Außenseiterdasein. Maria war wohl sehr verunsichert. Sie war ledig und schwanger. Sie sind sehr verschieden, aber es verbindet sie eine Hoffnung, die sie miteinander teilen können.
Das Erste, was Elisabet tut – sie segnet das Ungeborene. Das Erste, was Jesus empfängt, ist der Segen einer Frau. Eigentlich Blasphemie oder doch nicht? Benediktion – Segen – ist abgeleitet vom lateinischen Wort benedicere und meint von jemandem gut sprechen, jemanden loben oder preisen.
Im ersten Testament wird der Segen von den Vätern weitergegeben und hat eine ganz wichtige Bedeutung. Im Buch Genesis ist beschrieben, wie Jakob seinen älteren Zwillingsbruder Esau um den Erstgeborenensegen des Vaters bringt (Gen 27,1–40). Als Großvater segnet er seine Söhne (Gen 49,3-28). Der erste erwähnte Segen in der Bibel wird von Gott selbst bei der Schöpfung der ersten Lebewesen gesprochen (Gen 1,22).
Biblisch können zwei Segensformen unterschieden werden: ein Segen, der von Gott auf den Menschen herabkommt, und ein Segen, der von der Erde zum Himmel, an Gott gerichtet ist. Der Segen besitzt auch eine soziale Funktion. Wer andere Menschen als gesegnet bezeichnet, definiert dadurch deren Beziehung zu dem gemeinsamen Gott. So war es etwa beim Segen des Melchisedek über Abraham (Gen 14,19-20). Auf diesen Segen nimmt der Hebräerbrief mit einer bemerkenswerten Formulierung Bezug: „Zweifellos wird aber immer der Geringere vom Höheren gesegnet“ (Hebr 7,7).
Bereits vor der Geburt des Gottessohnes taucht dieser somit tief in die Menschheit ein. Beim Segen der Elisabet über das Ungeborene werden alle Standesunterschiede zwischen Gott und den Menschen aufgehoben. Jesus kommt damit nicht nur als winziger Mensch, als Säugling zur Welt, sondern Gott lässt sich vom Menschen – der Frau Elisabet – Gutes zusprechen. Auch Jesus braucht Gutes zugesagt. Maria erhält den Segen des Engels Gabriel und der Elisabeth – himmlischer und irdischer Segen werden eins. Segenempfangende und Segenspendende befinden sich mit Gott in einer Segenssphäre, in der Sphäre des einen Gottes.
Gesegnet zu sein oder zu werden ist keine egozentrische Erfahrung, sondern beinhaltet auch einen Auftrag. Abraham ist nicht nur Segen Empfangender, sondern sein Auftrag ist, auch für andere zum Segen zu werden: „Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein“ (Gen 12,2).
Wer in diese Fußstapfen eintritt und zum Segen für andere wird, dessen Name wird groß gemacht bei Gott. Er ist wie der Prophet Jesaja es beschreibt, eingezeichnet in die Hände Gottes (Jes 49,16) und damit Teil der göttlichen Genealogie. Elisabet gibt der Maria mit ihrem Segen für sie und ihr ungeborenes Kind ihr Erfahrungswissen weiter. So wie es Großeltern oder Eltern in vielen Fällen bei ihren Kindern tun. Es werden Lebensweisheiten und Glaubenserfahrungen weitergegeben. Erst dieser Segen der Elisabet ermutigt Maria, im sogenannten Magnificat weit auszuholen. Sie geht dabei zurück bis zu den Verheißungen Gottes an Abraham. Der Prophet Micha beschreibt die Genealogie des Erlösers in der Lesung: „Seine Ursprünge liegen in ferner Vorzeit, in längst vergangenen Tagen“ (Mi 5,1). Um diesen Wurzelgrund zu wissen, zu erkennen, dass sie nicht nur ein unbedeutendes Rädchen in der Geschichte ist, gibt Maria die Kraft das Kommende auszuhalten.
Papst Franziskus meint auch: „Ohne Erinnerung geht es nicht voran, man entwickelt sich nicht weiter ohne eine umfassende und hellsichtige Erinnerung“. Noch leben Menschen, die in bescheidenen Verhältnissen nach dem Krieg aufgewachsen sind. Sie erzählen gerne davon, dass man damals mit weit weniger auszukommen hatte, deshalb aber nicht weniger glücklich oder unzufrieden war. Noch gibt es die Chance, diese Lebensweisheiten an die nächsten Generationen weiterzugeben. Eine Lebensweisheit, die den jungen Menschen und der nächsten Generation zum Segen werden kann. Maria eilte zu einer alten Frau, um von ihrer Lebenserfahrung profitieren zu können. Alle Generationen eint – damals wie heute – die Hoffnung auf eine gute Zukunft.
Wenn Sie den Text der 1. Lesung aus dem Buch Micha anhören möchten:
Wenn Sie den Text der 2. Lesung aus dem Hebräerbrief anhören möchten:
Wenn Sie den Text aus dem heiligen Evangelium nach Lukas anhören möchten:
In unseren Gedanken zu den Texten der Sonntage haben wir schon öfter auf die Problematik von Textauslassungen hingewiesen. Wir wollen einen Versuch starten und werden ab dem Beginn des neuen Lesejahres die Texte in der Länge der biblischen Verfasser lesen.
Seit Jahrhunderten beeindruckt die Bibel Menschen mit ihren Formulierungen. In der Zeit ihrer Entstehung für jeden verständlich brauchen Leserinnen und Leser von heute eine Übersetzung dieser Texte. Jede Übersetzung ist in gewisser Weise auch eine Deutung der Schrift. Die Einheitsübersetzung ist uns bereits vertraut. Wir wollen bewusst mit Beginn des neuen Kirchenjahres eine andere Übersetzung verwenden, um uns neu von den Texten überraschen zu lassen. Wir haben uns für die Übersetzung der BasisBibel entschieden, die seit Januar 2021 vollständig vorliegt. Die BasisBibel ist die Bibelübersetzung für das 21. Jahrhundert: klare Sprache, kurze Sätze und verständliche Sprache.