Wem ihr vergebt … Gedanken zu einem nachösterlichen Text bei Johannes
Es ist ein dichter und anregender Abschnitt im Johannesevangelium im 20. Kapitel, Vers 19-31. Gerne empfehle ich Ihnen, den Text im Neuen Testament (wieder einmal) zu lesen.
Das Johannesevangelium endete ursprünglich mit der in Joh 20,19-31 beschriebenen Begegnung. Die Jünger haben gerade von Maria Magdalena, der ersten Zeugin der Auferstehung, erfahren, dass Jesus lebt. Doch diese Nachricht hat keine Konsequenzen, die Jünger sind hinter verschlossenen Türen und bleiben auch dort, sie sind voll von Angst. Sie haben sich verkrochen. Verständlich, wenn wir an die Folterung und grausame Ermordung Jesu denken.
Dann geschieht das Unerwartete: Der Gefolterte und Ermordete, Jesus, kommt und stellt sich in die Mitte. „Friede“ – sagt er. Am Beginn zur Geburt Jesu singen Engel: Friede den Menschen! Und jetzt wieder: Friede. Diese Hoffnung zieht sich durch die ganze Bibel: Friede, keine Angst. Friede meint ein zufriedenes, ein sicheres, ein erfülltes Leben, Friede umfasst alle Lebewesen, die gesamte Schöpfung. Wir vergessen manchmal: Das Kreuz ist ursprünglich kein religiöses Symbol, sondern ein reales Zeichen für Herrschaft und Gewalt, für Folter und elendes, grausames Sterben. Nach der Ermordung durch die gewalttätige Welt sagt Jesus: „Friede – euch, keine Angst“. In den sogenannten Abschiedsreden des Johannesevangeliums, im 16. Kapitel, Vers 33 sagt Jesus zu den Jüngerinnen und Jüngern: Jetzt – in der Welt, habt ihr Angst; doch habt Mut … Aber – nach Ostern, in einem österlichen Leben ist den Menschen etwas anderes zugesagt: Friede, keine Angst.
Und Jesus zeigt sich, er zeigt seine Wunden. Ich finde es immer wieder ungewohnt, dass sich einer mit seinen Wunden zeigt. Vielleicht haben Sie jemanden, der Sie an Ihren Wunden erkennt, an dem, was Sie gelitten, was Sie erlitten haben. Ich finde es immer wieder berührend: Er zeigt seine Wunden und gibt sich so zu erkennen. Und die anderen erkennen ihn an seinen Wunden und freuen sich.
Wie am Beginn der Schöpfung Gott dem Menschen den Lebensatem einhauchte, so haucht jetzt Jesus den Jüngerinnen und Jüngern seinen Geist ein. Es ist das „Pfingstereignis“ im Johannesevangelium, es ist die „Geistsendung“ bei Johannes, die hier überliefert ist. Dieser Sendungstext ist prägnant: „Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert.“ (v23) Die Botschaft ist einfach und klar. Hier ist vom „Wir“ der Jüngerinnen und Jünger, von der Gruppe derer die Rede, die zu Jesus gehören: „Wem wir vergeben, dem ist vergeben.“
Es ist vermutlich ungewohnt, den Auftrag Jesu an die Christinnen und Christen so zu fassen: „Wem wir vergeben, dem ist vergeben.“ Vermutlich kennen Sie das, in der Familie, in der Partnerschaft, am Arbeitsplatz: Wir sind es, die vergeben, die nachsichtig, die großzügig sind – oder wir sind es nicht. Kein „wenn“, kein „aber“, keine Einschränkung, keine Erklärungen, keine Bedingung, sondern: Im Geist Gottes handeln Menschen wie Jesus: Menschen vergeben – oder sie vergeben nicht. Menschen wenden sich einander zu – oder nicht. Menschen stärken einander – oder nicht. Christlich gesprochen: Wir vergeben – oder wir vergeben nicht. So einfach ist das. Es liegt an uns.
Hier geht es nicht um alle Unterscheidungen, die für uns Menschen im Zusammenleben wichtig sind, wie z. B.: Was sind Voraussetzungen, einander zu vergeben? Was brauchen Menschen, um das tun zu können? Wo ist es nötig, zuerst Gerechtigkeit herzustellen, bevor Vergeben möglich ist? Es geht nicht um weiterführende Überlegungen, die für Menschen im Zusammenleben wichtig sind, besonders dann, wenn nach langen Verletzungen und Abwertungen und Nicht-Gesehen-Werden noch der Anspruch entstünde, vergeben zu müssen, ohne dass die Ungerechtigkeit und das Leid und die Missachtung anerkannt werden, die Menschen einander zugefügt haben.
Hier geht es auch nicht um die Frage nach bestimmten Ämtern in der Kirche oder darum, wer was in Gemeinden und kirchlichen Aufgaben darf. Hier geht es um die grundlegende Erfahrung: Jüngerinnen und Jünger ziehen sich erschreckt und entsetzt durch die Folterung und öffentliche Ermordung Jesu am Kreuz zurück. Und es ist wieder die Begegnung mit Jesus und seiner Botschaft, die sie ermutigt und stärkt, die Türen zu öffnen: Friede, keine Angst.
Die Überlieferungen der Begegnungen mit Jesus nach dem Tod erzählen von der Ermutigung und der Zumutung, dass Christinnen und Christen das weiter leben, was Jesus wichtig war. Und damit sind wir wieder beim Anfang des Textabschnittes im Johannesevangelium: Friede, keine Angst.
Und dann – Thomas. Das ist die letzte Szene im ursprünglichen Johannesevangelium. Sie können mehr zu Thomas in diesem Heft im Beitrag von Wilhelm Bruners nachlesen. Thomas fordert eine eigene Begegnung. Und es klingt, als ob Jesus eigens für Thomas nochmals in ihre Mitte kommt. Jetzt ist Thomas beim Namen gerufen, als wären für einen Moment alle anderen rundum vergessen. So wird eine berührende Begegnung möglich. Denn wenn Menschen berührt sind, machen sie meist nicht viele Worte. Mir geht es auch so. Vielleicht sind auch deshalb die Worte, die von Thomas überliefert sind, knapp, fast karg. Ostern als Mutmachen, Ostern als Stärkung gegen die Angst, Ostern als Begegnung, Ostern als Berührung – auch schön, finde ich.
Helga Kohler-Spiegel, Theologin, Psychotherapeutin, Professorin an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg, Feldkirch
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift „Dein Wort – Mein Weg“ – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 2/18 publiziert worden.