Los lassen 1. Lesung: Ez 37,1-14| 2. Lesung: Röm 8,8-11| Evangelium: Joh 11,1-45
Das Johannesevangelium gleicht einer Folie, auf der sich verschiedene Ebenen des Lebens spiegeln. Meine Gedanken können es vielleicht ein wenig aufzeigen. Wobei das Evangelium dieses Sonntags meine Familie in besonderer Weise betrifft.
Mein Schwager ist gestern Nacht auf einer Palliativstation verstorben. Er wollte noch leben. Meine Schwester hat um sein Leben gekämpft. Die Ärzte haben um sein Leben gekämpft. Die Erkrankung war zu mächtig. Es ist unser aller Hoffnung, dass wenn wir in den nächsten Tagen – den Umständen entsprechend im kleinen Kreis – endgültig Abschied nehmen, es der Herr sein wird, der mit am Grab ist und ruft: Burkhard, komm heraus ins Leben. Ich glaube dem, der zur Marta sagt: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben.
Das Wort Jesu am Grab ist auch an uns gerichtet: Löst ihm die Binden und lasst ihn gehen! Meine Schwester hat sich in den letzten Wochen und Tagen immer wieder von Erwartungen und Wünschen lösen müssen, so etwa der Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen bis hin zum Wort: Burkhard, du darfst gehen. Das Loslassen ist Teil des österlichen Geschehens oder Teil einer österlichen Haltung, wie es auch der Maria von Magdala geboten war. Es war der Auferstandene, der zu Maria sagte: Halte mich nicht fest.
Das Johannesevangelium dürfen wir als Folie für einen anderen Bezug sehen, nämlich auch für unsere Glaubensgemeinschaft, die Kirche: Als Jesus berichtet wird, dass sein Freund Lazarus krank sei, sagt er: Die Krankheit führt nicht zum Tod, sondern dient der Verherrlichung Gottes. Und er blieb noch zwei Tage (vgl. Joh 11,4-6). Es dient der Verherrlichung Gottes. Können oder dürfen wir manchen Tod so deuten oder verstehen? Vielleicht trifft es sogar auf unsere Kirche zu, in der das Sterben so mancher Erscheinungsform der Verherrlichung Gottes dienen mag? Wenn da das eine oder andere an Kraft und Leben verliert, wird es gerne dem Unglauben des Volkes zugeschrieben. Es könnte aber auch sein, dass es eben der Verherrlichung Gottes dient.
Ich denke etwa an die „zölibatäre Männermacht“, die in einem hohen Ausmaß die innenwohnende Verfügbarkeit und im gesellschaftlichen Kontext die notwendige Lebendigkeit verloren hat und vermutlich noch weiter verlieren wird. Es passt nicht mehr, wenn nur Männer die Kirche repräsentieren, leiten und gestalten. Diese Respekt- und Würdelosigkeit den Frauen gegenüber darf der Vergangenheit angehören. Diese Gestalt von Kirche hat ausgedient. Da kann man nur mit den Worten Jesu sagen: Wenn sie stirbt, dient es der Verherrlichung Gottes.
Die Frauen in die Gestaltung der Kirche einzubauen, bedeutet nicht den Tod der Kirche, sondern birgt die Chance neuen Lebens, neuer Lebendigkeit. Die Gestaltung der Welt ist Mann und Frau aufgetragen. Als Mann und Frau sind sie Abbild Gottes. Es gilt bisherige Binden an Händen und Füßen zu lösen. Dazu zählt vielleicht auch jene Aussage von Johannes Paul II. von 1994: Das Amt sei für Frauen nicht denkbar.
Sterben an der Gestalt der Kirche darf auch ihre absolutistische Verfasstheit. Das Recht der Gläubigen ist bislang nicht gesichert oder geregelt. In einem Konfliktsfall sind sie schlicht auf das Wohlwollen einer Autorität – des Pfarrers, des Bischofs oder des Papstes – angewiesen. Es fehlt für einzelne und für Gremien eine geregelte Rechts- und Konfliktkultur. Wir hinken hinter der Gesellschaft her und es muss uns nicht wundern, wenn wir als Dialogpartner nicht gefragt werden oder sind.
Die Folie des Johannesevangeliums bietet die Grundlage einer weiteren Ebene des Lebens: Die Auferweckung des Lazarus ist das siebte Zeichen, das Jesus im Johannesevangelium wirkt. Mit der Zahl sieben verbinden wir den siebten Tag der Schöpfung. Es heißt da von Gott, dass er am siebten Tag ruhte und den Tag heiligte. Es sind zwei ganz unterschiedliche Zugänge, die uns da begegnen: die Ruhe Gottes am siebten Tag und die Grabesruhe bei Lazarus mit Leichengeruch.
Die Ruhe Gottes am siebten Tag ist eine Ruhe der Freude und Dankbarkeit. Es ist eine schöpferische Ruhe, die das Geschaffene zur Vollendung bringt, weil sie wahrnimmt, was ist. Es ist eine Ruhe, die keinen Zweck verfolgt, schon gar nicht ausbeuterisch oder erobernd. Es ist eine heilige Ruhe, die das Sein achtet und dem Sein Würde gibt. Es ist eine Ruhe, in der Gott zur Sprache kommt, nicht belehrend oder besserwisserisch. Es ist eine Ruhe, in der ich mich geborgen und aufgehoben wissen darf, eine Ruhe, an der alle teilhaben dürfen: die ganze Schöpfung, Mensch und Tier. Das macht sie so heilig-heilsam.
Lazarus liegt in einem Grab. Er riecht. Es ist keine heilige Ruhe, keine Ruhe, die etwas als gut abgeschlossen hätte. Da stinkt noch etwas zum Himmel, das der Korrektur, der Erneuerung, des Neuanfangs bedarf. Jesus ruft ihn aus diesem Zustand heraus. Nicht so soll das Leben seines Freundes enden. Löst ihm die Binden und lasst ihn gehen.
Vielleicht bietet diese außergewöhnliche Krisenzeit mit dem Corona COVID-19 die Chance, diese andere Ruhe, diese schöpferische und heilige Ruhe neu zu entdecken. Es ist nicht die Ruhe Gottes, die den Tag allein zum Ausschlafen benützt, um die Arbeitswoche zu bestehen. Es ist nicht die Ruhe Gottes, die Erlebnis an Erlebnis reiht, ohne die Schöpfung, die Mitmenschen und sich selbst wirklich wahr zu nehmen. Es ist keine heilig-heilsame Ruhe, die die Zeit von Anfang bis Ende verzweckt oder mit Aktionismus ausfüllt.
Gott ruhte. Er hat es gelernt und es sich gegönnt. Wir dürfen ihn darin nachahmen.
Wenn Sie den Text der 1. Lesung aus dem ersten Buch Ezéchiel anhören möchten:
Wenn Sie den Text der 2. Lesung aus dem Brief an die Römer anhören möchten:
Wenn Sie den Text des Evangeliums nach Johannes anhören möchten:
Ein Kommentar zu “Los lassen 1. Lesung: Ez 37,1-14| 2. Lesung: Röm 8,8-11| Evangelium: Joh 11,1-45”
Lieber Erich,
müssten wir uns unter diesen Umständen, dass dein Schwager Burkhard die Binden gelöst bekam und mit einem “lasst ihn gehen” der Herrlichkeit Gottes entgegenging, nicht auch glücklich sein? Die Auferweckung des Lazarus unter diesem Blickwinkel sehen zu dürfen, ist für mich ausgesprochen tröstend. Täglich danke ich dem Herrn für die geschenkten Tage meiner lieben, an Krebs erkrankten Frau. Was auch kommen mag, – wenn mir der Glaube einer Marta geschenkt ist, fürchte ich mich nicht so sehr vor dem, was da auch immer kommen mag. Für deine Gedanken und dein Gebet möchte ich dir herzlich danken. Es gibt mir Kraft, Zuversicht und Trost zugleich.
Der Herr segne und behüte dich!
mit tröstenden, österlichen Grüßen
Hans