Wunden sehen lassen 1. Lesung: Apg 2,1-11 | 2. Lesung: 1Kor 12,3b-7.12-13| Evangelium: Joh 20,19-23
Es sind zwei ganz unterschiedliche Zugänge zum Pfingstfest, die uns heute die beiden biblischen Texte vorgeben. Da ist einerseits das Evangelium nach Johannes. Die Jüngerinnen und Jünger befinden sich hinter verschlossenen Türen im sogenannten Abendmahlssaal, in einem selbstgewählten Gefängnis. Aus Angst, ein ähnliches Schicksal wie Jesus zu erleiden, haben sie sich eingesperrt.
Johannes berichtet, dass der Auferstandene in ihre Mitte tritt und sie mit dem Wunsch des Friedens grüßt. Es sind enttäuschte, verwundete Seelen, zu denen er spricht und denen er sich mit seinen eigenen Wunden zeigt. Es ist eine Begegnung, in der ein tiefes Verständnis füreinander wachsen kann, eine Begegnung, in der das gegenseitige Stützen und miteinander auf dem Weg sein erfahren wird.
Der Auferstandene trat in ihre Mitte. Vielleicht müssen wir es heute als Gläubige neu lernen, den Auferstandenen zu sehen. Wenn Menschen zusammen kommen – mag es eine Gottesdienstgemeinde oder einfach eine in seinem Namen versammelt Gruppe sein und mag es erbärmlich aussehen wie damals im Abendmahlssaal -, dürfen wir davon ausgehen, dass er in die Mitte kommt. Er kommt in die Mitte, sollte auch kein Priester – zölibatärer Mann – zugegen sein. Es ist der Auferstandene selbst, der die Begegnung sucht, der uns im Wort Gottes, im Gebet, in den Liedern, in der Stille, im Austausch und in der erfahrenen Gemeinschaft begegnet und begegnen will.
Von den Jüngerinnen und Jüngern heißt es, dass sie es mit Freude erfüllte, als sie den Herrn sahen. Wie kann es verstanden werden: Den Herrn sehen? Wenn Johannes schreibt, dass ER den Frieden wünscht und anschließend die Wunden zeigt, dann wird für sie nochmals die Botschaft Jesu auf verdichtete Weise sichtbar: Jesus sucht die Seinen. Er hält die Hand zur Versöhnung hin. Er lebt einen neuen Geist. Nicht Gewalt, Erfolg, sich Durchsetzen oder das Liegenbleiben im Grab ist sein Weg, sondern das Sammeln, Einbinden, Ermutigen, heilende, heilsame Begegnungen, das Wegnehmen von Ängsten, das Einhauchen von Hoffnung und Leben. Das „Jesus sehen“ ist zutiefst mit seinem Programm, mit seiner Botschaft verbunden.
Die Jüngerinnen und Jünger werden im Johannesevangelium von innen her verwandelt. Der von Jesus eingehauchte Geist und die wachsende Freude bricht ihre selbstgewählte Gefangenschaft auf. Und er sendet sie mit dem Auftrag, sich auf den Weg zu machen und anderen das gleiche zukommen zu lassen, nämlich Sünden zu vergeben. Ich darf diesen Auftrag Jesu etwas pointiert formulieren: Sie sollen dazu beitragen, dass Menschen aus ihrer misslichen Situation, aus ihrem Gefängnis, worin immer es bestehen mag bzw. aus ihrem „Scheiß“ herauskommen. Sünden vergeben ist bei Johannes mehr als ein fromm gesprochenes Wort, es steht in Verbindung mit Leben in Fülle zu ermöglichen.
Wie bisher beschrieben haben wir einerseits das Evangelium nach Johannes. Wir haben andererseits die Apostelgeschichte. Sie erzählt Pfingsten auf andere Weise. Da ist es ein nach außen sichtbares Ereignis. Es erscheinen Zungen wie von Feuer, die sich verteilen. Jünger – allen voran Petrus – treten auf und man versteht sie auch als Fremder in der Muttersprache. Es ist ein Getöse. Es gibt Bestürzung. Menschen kommen zu einer Demonstration zusammen. Beides ist Pfingsten: im Abendmahlssaal und ebenso das Ereignis, das sich draußen abspielt und Menschen ins Staunen bringt.
Wenn wir die Schilderung des pfingstlichen Ereignisses in der Apostelgeschichte betrachten, dann müssen oder können wir Parallelen zur Kirche der Gegenwart feststellen. Vielleicht erlebt sie mehr Pfingsten als es vorderhand vermutet wird. Die aufgedeckten Fälle von Missbrauch und Gewalt in ihr haben große Bestürzung und ein breites Entsetzen ausgelöst. Es bläst ihr heftiger Wind um die Ohren. Endlich werden diese Wunden ernst genommen und angesehen – zumindest gibt es bei vielen den Versuch. Es verändert die Kirche. Es trägt bei, wieder glaubwürdiger zu werden. Und: Es ist ein Beitrag, dass die Gesellschaft insgesamt für diese Themen sensibler wird.
Wir erleben ferner, dass wir in der Kirche die Sprache, die die Menschen verstehen, verloren haben. Sie ist gefordert eine neue Sprache zu finden, die als Muttersprache wahrgenommen wird. Viele können ihre Lebenswelt und Gott nicht mehr in Verbindung bringen. Wohlgemerkt: Es ist der pfingstliche Geist, der die Jüngerinnen und Jünger auf die Sprünge half. Eine neue Sprache finden bezieht sich nicht nur auf die Liturgie. Sie fehlt uns genauso im Alltag, in den Alltagsgesprächen, in denen wir Erlebtes oder unsere Erfahrungen mit Gott verbinden können. Aus dem positiven Denken oder aus Durchhalteparolen bei schwierigen Lebensphasen wächst noch keine tragfähige Hoffnung.
Es ließen sich Zungen von Feuer auf alle herab. Niemand kann sich selbst auf den Kopf sehen. Nur andere können es bei mir sehen und ich kann es bei anderen sehen: das Wunder oder auch das Wunderbare. „Bei dir sehe ich Wunderbares!“ „Feuer und Flamme bist du!“ „Du bist begeistert – begeisternd!“ Wenn Glaubende, Menschen so voneinander sprechen, einander helfen auf diese Weise die Begabungen zu sehen und sich darin bestärken, dann wächst Hoffnung und Kraft, dann wächst neues Gespür für die verschiedenen Gaben und Begabungen, dann wächst jene Freude, die das Evangelium verkünden hilft.
Es ist ein pfingstlicher Blick, das Sehen der Feuerzungen, die auf den einzelnen liegen. Wer allein beim Sehen der Schwächen, der Fehler oder des Unvermögens hängen bleibt, verhindert viel Entwicklung und neues Leben.
Die biblischen Texte schildern auf unterschiedliche Weise das Wirken des Heiligen Geistes an Pfingsten: Einmal wirkt er von innen her, beinahe unbemerkt und unscheinbar eingehaucht. Dann wiederum ist sein Wirken von äußeren Zeichen begleitet und für die ganze Welt sichtbar, vielleicht sogar bestürzend wahrnehmbar.
Wir feiern Pfingsten, weil dieser Geist Gottes heute wirkt, Glauben und Hoffnung stiftend, dem Chaos und der Hoffnungslosigkeit trotzend, heilend, verbindend, versöhnend mit dem Ziel, Leben in Fülle zu schaffen.