Ein Lied für alle Völker 1. Lesung: Jes 9,1-6 | 2. Lesung: Tit 2,11-12| Evangelium: Lk 2,1-4 oder Joh 1,1-18
„Stille Nacht! Heilige Nacht! … Jesus, der Retter ist da.“ Vermutlich haben sie heute dieses Lied gehört bzw. gesungen. Ich muss gestehen, dass mein Verhältnis zum Lied gewisse Reserven verspürte, ehe ich vor wenigen Tagen Prof. Roman Siebenrock, Dogmatiker in Innsbruck bei einem Vortrag hören durfte. Einige seiner Gedanken möchte ich hier weitergeben:
Das Lied feierte im vergangenen Jahr sein 200-jähriges Bestehen. Im Jahre 1818 wurde es in Oberndorf bei Salzburg zum ersten Mal gesungen, nicht im Gottesdienst, sondern vermutlich beim anschließenden Gang zur Krippe. Es wurde vom Priester Joseph Mohr (1792-1848) verfasst. Er war ein lediges Kind, ein „Kind der Sünde“. Seine Mutter lebte im Armenviertel Salzburgs und hatte für vier ledige Kinder zu arbeiten und zu sorgen. Der Taufpate war einer der Scharfrichter von Salzburg, der allerdings bei der Taufe fehlte. Joseph Mohr erfuhr auch Unterstützung. Der Salzburger Domvikar Johann Nepomuk Hiernle förderte sein musikalisches Talent. So konnte er die Gymnasien in Salzburg und Kremsmünster besuchen und ab 1811 in Salzburg Theologie studieren. Damit Joseph Mohr als lediges Kind 1815 Priester werden konnte, bedurfte es einer Sondergenehmigung des Bischofs.
Als Priester vergaß Joseph Mohr nie seine Herkunft. Er setzte sich für die Armen, Kranken und Notleidenden ein. Er tat auch alles, um Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen. An einem seiner Einsatzorte (Wagrein) baute er eine Schule. Er starb 1848 an einer Lungenlähmung, ausgelöst durch den Besuch kranker Menschen.
Zum Verständnis des Liedes ist ebenso der geschichtliche Hintergrund von Bedeutung. Es war die Zeit nach der französischen Revolution mit dem gewichtigen Slogan: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. In der Folge kam es in Europa zu einem langjährigen Krieg, der 1815 in der Schlacht von Waterloo zu Ende ging und die Landkarte veränderte. 1818 wurde Salzburg von Bayern abgespalten und ein Teil Österreichs.
Auch ein neues Rechtsverständnis erfasste die Gesellschaften, das sogenannte „Bürgerliche Gesetzbuch“. In Österreich erlangte es 1812 Gültigkeit.
Mit der französischen Revolution begann ebenso für die Kirche eine turbulente Zeit. 1803 wurde im Zuge der Säkularisation im „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“ auch Salzburg säkularisiert. Die politische Herrschaft der Erzbischöfe war zu Ende. Das kirchliche Leben wanderte von den Kapellen und Kirchen der Paläste und Höfe in die Pfarren. Eine Entwicklung die Kaiser Josef II. durch seine Kirchenreform in besonderer Weise förderte.
Die Kirche wurde gesellschaftlich entmachtet, d.h. das Evangelium konnte nicht mehr mit gesellschaftlichem Zwang verbreitet werden. Die apostolische Majestät ist dahin und dennoch bleibt der HERR Israels die bestimmende Wirklichkeit der Geschichte.
Zu erwähnen sind ebenso Naturereignisse dieser Zeit, die das Lebensgefühl mitprägten. 1815 brach in Indonesien der Vulkan Tambora aus, der in Amerika und in Teilen Süd- und Westeuropas zu einem „Sommer ohne Sonne“ führte. 1816 war ein ausgesprochen kaltes Jahr, in dem allein in Deutschland achtzehnhundert Menschen erfroren sind. In mehreren Gebieten kam es zu Hungerkatastrophen. 1818 kamen für Salzburg weitere Katastrophen hinzu. Überschwemmungen und ein Brand belasteten die Stadt schwer.
Mit diesen Hintergründen nun Gedanken zum Text des Liedes, wobei ich nur auf einige Wenige eingehen kann:
„Stille Nacht! Heilige Nacht!“ – Mit dem Wort Nacht umfasst Joseph Mohr nicht allein die Nacht in Betlehem, sondern ebenso diese Erfahrungen von Not, Elend, Angst, Ungewissheit und Hunger. Wir können fragen: Was lässt Menschen still, stumm werden? Was hat mich schon einmal still werden lassen?
„Stille Nacht! Heilige Nacht!“ – Es ist ein Glaubensstatement des Joseph Mohr: Diese Erfahrung von Nacht, die viele Menschen still (stumm) werden lässt, ist zugleich auch Heilige Nacht. In ihr ist Gott zugegen; kommt er uns entgegen. Das Kind von Betlehem bringt Kunde davon. In den Nächten, die uns nicht schlafen lassen, ist ER zugegen; sucht er uns. Heilige Nacht.
Ein wesentliches Kennzeichen der damaligen Verkündigung war das Drohen mit Gott, bzw. man deutete die Turbulenzen und Katastrophen der Zeit als Strafe Gottes. Joseph Mohr stellt Gott in ein anderes Licht. Wir kennen den Text der 2. Strophe: „Gottes Sohn! O wie lacht Lieb‘ aus deinem göttlichen Mund, Da uns schlägt die rettende Stund‘.
Er zeichnet Gott nicht als einen, vor dem man Angst haben muss, sondern als Kind, das uns anlächelt und jede Angst unangebracht ist. ER ist ein Gott, der in unsere Gesichter Licht, ein Lächeln und Freude bringen will, wie ein Kind, das uns aus dem Kinderwagen anstrahlt.
Das Lied ist stark vom Gedanken geprägt: Der Retter ist da. Er ist heute da, jetzt, wenn du singst und anbetetest. Der Retter ist da – in deiner Nacht, in jeder erlebten Nacht. Lass es dir zu singen. Künde anderen diese Botschaft mit deinem Singen.
Joseph Mohr hat das Lied so verfasst, dass es ein Lied ist für alle Völker und alle Menschen, nicht allein für Christen, Glaubende oder gar Fromme allein. Für alle ist der Retter da.
Würden wir den Text aller sechs Strophen betrachten, würden wir entdecken, dass Joseph Mohr die Gedanken der französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – ins Lied aufgenommen und verarbeitet hat. Die Kirche und Welt erlebte große Umwälzungen. Trotzdem finden wir in diesem Lied kein Wettern gegen die Moderne oder Klagen über einen Glaubensverlust der Menschen, vielmehr zeugt es von einem tiefen Glauben an Gottes Gegenwart und Mitgehen in all den Herausforderungen.
Vielleicht tragen die Gedanken bei, das Lied mit größerer Achtung und Inbrunst zu singen?
Ein Kommentar zu “Ein Lied für alle Völker 1. Lesung: Jes 9,1-6 | 2. Lesung: Tit 2,11-12| Evangelium: Lk 2,1-4 oder Joh 1,1-18”
Erich
Nochmals vielen Dank für das “Bibellabor”.
Wünsche dir ein GESEGNETES WEIHNACHTSFEST UND VIEL SEGEN 2020 und alles Gute für deine neue Aufgabe in Hard.