Gott, der sich nicht bewahrt Aufrüttelnde Gedanken zu Mk 15,34-39
Und in der neunten Stunde schrie Jesus mit gewaltiger Stimme: Eloi, Eloi, lema sabachtani. Das heißt übersetzt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich im Stich gelassen! Einige der Dabeistehenden hörten es und sagten: Sieh her, er ruft den Elija. Da lief einer, füllte einen Schwamm mit Essigwein, steckte ihn auf einen Rohrstock und wollte ihn tränken … Jesus aber ließ einen gewaltigen Schrei und hauchte seinen Geist aus. Und der Vorhang des Tempels ward zersplissen – entzwei von oben bis unten. Als aber der Hauptmann, der ihm gegenüber dabeistand, ihn so – schreiend – den Geist aushauchen sah, sprach er: Wahrhaftig – dieser Mensch war Gottes Sohn!
Wie oft haben wir die Geschichte des Todes Jesu schon gehört? … und – wie wenig sind wir uns der Dramatik dieses Ereignisses bewusst. Als verratener, gegeißelter, von Dornen zerstochener, bis auf ein Lendentuch nackter, an Händen und Füßen von Nägeln durchbohrter, verhöhnt und verspotteter, sterbender Mensch beginnt die letzte Phase des Todeskampfes Jesu. Noch einmal schreit er vor Schmerz auf, den Psalm 22 beginnend, den er seit seinen Kindertagen kennt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bleibst fern meiner Rettung, den Worten meines Schreiens?“ Die Dabeistehenden hören es und vermuten, er rufe nach Elija. Den aufgesteckten Schwamm mit Essigwein erhält er nicht mehr, denn sie wollen sehen, wie ihn Elija vom Kreuz herunterholt. Da lässt Jesus einen zweiten „gewaltigen Schrei“ (wie Fridolin Stier übersetzt) und haucht seinen Geist aus. Einer hat genau hingesehen bei diesem qualvollen Sterben Jesu, der Hauptmann. Als er „ihn so – schreiend – den Geist aushauchen sah, sprach er: Wahrhaftig – dieser Mensch war Gottes Sohn!“ (Mk 15,39)
So – schreiend – sterben? Wo war dann Gott angesichts dieser Not, dieser Finsternis und der unsäglichen Schmerzen. Immer schon haben sich die Menschen diese Frage gestellt. Ist Gott taub für die Worte des Schreiens in Todesnot? Es gibt sie ja immer noch, diese Schreie in allerhöchster Not, laut und gewaltig, ausdauernd, gellend und wenn vor Schmerz der Leidende sich „hingeschüttet fühlt wie Wasser“ und die „Eingeweide zerflossen“ sind (Ps 22,15), dann ist der Schrei nur mehr ein Hauch, aber doch da. Und es bleibt nichts mehr als der endlich erlösende Tod und der darüber hinausreichende Spott, wie bei Jesus, aber auch bei den vielen vor und nach ihm zu Tode geschundenen Menschen. Wo ist da Gott?
Die unfassliche und einzig mögliche Botschaft kommt aus dem Prophetenbuch des Jesaja, der den Menschen zusichert (Jes 7,14-15), dass Gott ein Immanuel ist, ein „Gott mit uns“, uns ganz nahe, uns inwendig … Dann ist Gott in diesem Schmerzensschrei, in dieser Verlassenheit und Todesangst. Dann ist Gott kein Zuseher, kein Dabeistehender, sondern er ist es, der hier selbst verachtet, der geschunden wird und den Tod erleidet. Der geschändete Christus, der sterbende Soldat, das verhungernde Kind, die vergewaltigte Frau … all das ist Gott selber als einer, der nicht außerhalb existiert oder sich abkehrt von seiner Schöpfung und taub stellt. Es ist Gott selber als einer, der seiner Schöpfung inwendig ist, der da ist in der Todesangst, im Leiden, im Sterben und letztlich im Hinhoffen auf die Erlösung.
Was ist es mit der Hoffnung, dieser dreisten, unendlich widerspenstigen, wahrhaftigen Kraft im Leben des Menschen? Es ist die Hoffnung, die der Prophet Jesaja in der Menschheit weckte und die mehr noch eine unbändige Freude ausdrückt – darüber: Dass Gott sich nicht bewahrt, dass er ganz gegenwärtig ist auch in den äußersten Widerwärtigkeiten des Lebens, dass er sein Angesicht nicht verborgen hält (Ps 22,25) und verlässlich da ist. So kann auch ich Mensch mich nicht bewahren, sondern muss in der Not gegenwärtig sein.
Christine Bertl-Anker, Bibeltheologin, Bregenz
Dieser Artikel ist erstmals in der Zeitschrift “Dein Wort – Mein Weg” – Alltägliche Begegnung mit der Bibel in der Ausgabe 2/18 publiziert worden.