Hinsehen lernen 1. Lesung: Jes 52,13-53,12|2. Lesung: Hebr 4,14-16;5,7-9 |Evangelium: Joh 18,1-19,42
Bei der Kreuzverehrung wird dreimal gesungen: „Seht, den Stamm des Kreuzes, daran der Herr gehangen“. Wir werden aufgerufen, das Kreuz genauer, nicht oberflächlich in den Blick zu nehmen, wirklich hinzusehen und nicht an den Kreuzen vorbeizuschauen. Wir sind eingeladen dreimal – schließlich mit einem göttlichen Blick – auf das Kreuz, beziehungsweise auch auf die Kreuze unserer Zeit zu schauen.
Seht den Stamm des Kreuzes. Es ist dieser Aufruf all jene Situationen in den Blick zu nehmen, in denen die Würde der Menschen mit Füßen getreten und ihr Lebensrecht in Frage gestellt wird. Die Welt ist immer wieder versucht den Blick auf das Kreuz und die Kreuze zu meiden, an den Notleidenden, Ausgegrenzten, Gescheiterten oder auch den Gräueln eines Krieges, verwundete und verstümmelte Soldaten, vergewaltigte Frauen, Traumata, Kinder ohne Eltern, Not und Elend vorbeizuschauen. Der Blick auf das Kreuz schließt den Blick auf die Schöpfung – das dürre Holz – ein.
Dieses Hinsehen lernen kann eine gefährliche Aufgabe sein. Jesus selbst ist davon betroffen. Er hat hingesehen, hat mitgelitten und musste dafür sterben. Es ist auch heute gefährlich, etwa für Kriegsreporter, Künstler und viele andere.
Seht den Stamm des Kreuzes. Wir hören es ein zweites Mal, weil wir aufgerufen sind tiefer zu sehen, die Gründe und Motive für das Kreuz und die Kreuze in den Blick zu nehmen. Jesus wurde aus politischen aber auch aus religiösen Motiven ans Kreuz geschlagen. Die Verurteilung Jesu ruhte auf Halbwahrheiten, Angst, Vorurteilen, private Interessen, Machterhalt, Oberflächlichkeit, Hetze … Manche meinten mit seiner Verurteilung Gott einen Dienst zu tun. Der Glaube berechtigt niemanden andere abzuwerten, zu verunglimpfen und sich selbst als besseren Menschen hinzustellen.
Seht, den Stamm des Kreuzes! Es ist dieser dritte Blick, der göttliche Blick auf das Kreuz. Von diesem Kreuz geht Rettung und Heil aus. Es wird dabei nicht das Leiden gutgeheißen oder gar verherrlicht, nein, sondern Gott erweist sich mit den Gekreuzigten zutiefst solidarisch. Ihr Schicksal ist sein Schicksal.
Nicht die Gewalttäter*Innen sind die „Herren der Weltgeschichte“, sondern es sind die Gekreuzigten. Wenn wir in der Eucharistiefeier das Sanktuslied: „Heilig, heilig, heilig …“ singen, singen wir ihr Siegeslied mit. Die Gekreuzigten sind die Richterinnen und Richter in der Welt Gottes.