Das neue Jerusalem 1. Lesung: Ez 18,25-28| 2. Lesung: Phil 2,1-11| Evangelium: Mt 21,28-32
Der Prophet Ezechiel, von dem wir in der ersten Lesung gehört haben, war ein Priester, der gemeinsam mit einem Teil des Volkes Israel nach Babylon deportiert wurde. Wenngleich die Situation des Exils, das Verlassen der geliebten Heimat, ein traumatisiertes Erlebnis war, verkündet Ezechiel die Herrlichkeit Gottes.
Im Unterschied zu anderen Propheten steht Ezechiel in einer besonderen Verantwortung. Er wird als Wächter angesprochen. Der Prophet ist nicht mehr nur Mittler zwischen Gott und Volk, erstmals wurde damit einem Propheten auch eine konkrete Verantwortung übertragen.
Am Beginn seiner Berufung erlebt Ezechiel Visionen, in denen er das Ende Jerusalems erkennt. Die ganzen Erzählungen im Buch sind voll von Zeichenhandlungen und Bildern.
Es gibt TheologInnen, die in den Ausführungen des Ezechiel‘s die Aufarbeitung eines Traumas sehen bzw. einer posttraumatischen Belastungsstörung. Es sei ein Stück biblische Trauma-Literatur, in der das Volk Israel ein schreckliches Schicksal aufgearbeitet hat. Diesem Ansatz möchte ich nun etwas nachgehen.
Aus historischen Quellen lassen sich die Schrecken nachverfolgen, die das Volk Israel durch den Belagerungskrieg bzw. bei seiner Deportation nach Babylon erlebt hat: Hunger, Seuchen, Kriegsgemetzel, Folter, Formen sexueller Gewalt, Plünderungen. Die Deportierten mussten kilometerlange todbringende Wege zurücklegen, erlebten auf dem Weg das Sterben von Angehörigen, die Zerschlagung von Familien. Der Marsch endete in einem Leben in der Fremde und ohne Hoffnung auf Rückkehr. In Anbetracht der aktuellen Situationen nach den Überflutungen in Libyen, dem Erdbeben in Marokko und den tödlichen Schiffsüberfahrten von Flüchtlingen lassen einem diese historischen Beschreibungen fast den Atem stocken.
Anhand der Erzählfigur des Ezechiel wird nun das kollektive Trauma des gesamten Volkes individuell konkret. Es werden Symptome eines persönlichen Traumas erzählt. Dazu gehört z.B. das plötzliche Einbrechen von Schreckensbildern, die stetige Wiederholung der traumatischen Katastrophe, die andauernde Beschäftigung mit den Themen Schuld, Scham und Rache.
Die Erzählung des Ezechiel scheint eine literarisch-theologische Antwort auf die Kriegserlebnisse zu sein. Gewalt und deren Folgen kommen im Angesicht Gottes zur Sprache und werden aufgearbeitet. Der heute gelesene Text findet sich in der Mitte des Buches und dabei steht die Frage von kollektiver und individueller Schuld im Mittelpunkt. Die Erkenntnis von Schuld und der persönlichen Verantwortung ermöglichen dem Volk Israel und dem je Einzelnen neue Selbsttätigkeit und Selbstwirksamkeit.
Der Abschnitt zu dem der heutige Text gehört beginnt damit, dass Gott eine Redewendung des Volkes Israel aufgreift: „Wie kommt ihr dazu, auf dem Ackerboden Israels das Sprichwort zu gebrauchen: Die Väter essen saure Trauben und den Söhnen werden die Zähne stumpf. So wahr ich lebe – Spruch GOTTES, des Herrn -, keiner von euch in Israel soll mehr dieses Sprichwort gebrauchen. Siehe, alle Menschenleben gehören mir. Das Leben des Vaters ebenso wie das Leben des Sohnes: Sie gehören mir. Der Mensch, der sündigt, nur er soll sterben“ (Ez 18,2-4).
Mit diesen Worten wird eine Epoche abgeschlossen, nun steht jede Generation und jeder Mensch selbst vor Gott. Auf die heute gehörten Zeilen folgt noch einmal eine Konkretisierung: „Darum will ich euch richten, jeden nach seinem Weg, ihr vom Haus Israel – Spruch GOTTES, des Herrn. Kehrt um, kehrt euch ab von all euren Vergehen! Sie sollen für euch nicht länger der Anlass sein, in Schuld zu fallen. Werft alle Vergehen von euch, die ihr verübt habt! Schafft euch ein neues Herz und einen neuen Geist! (Ez 18,30-32). Orientiert sich das Volk und der Einzelne zukünftig an der göttlichen Weisung, kann dazu beigetragen werden, dass eine vergleichbare Katastrophe nie wieder einbricht.
Am Ende werden die Begnadigung Israels und ein neuer Bund angekündigt, und zwar nicht mehr kollektiv mit dem ganzen Volk, sondern individuell mit jedem Einzelnen: „Ich gebe meinen Geist in euer Inneres und bewirke, dass ihr meinen Gesetzen folgt und auf meine Rechtsentscheide achtet und sie erfüllt“ (Ez 36, 27).
Der Prophet Ezechiel wird immer wieder an sein Wächteramt erinnert. Nur wer das Wort des Wächters hört, kann umkehren zu Gott. Mich erinnert dieses Wächteramt an die zahlreichen Stimmen – vielfach auch von jungen Menschen – die uns mahnen, umzudenken. Man muss die Zeichenhandlungen z.B. der Klimaaktivisten oder Seenotretter nicht teilen, aber es ist notwendig, die Botschaft zu bedenken, die sie vermitteln wollen. Ich denke, diese Menschen übernehmen derzeit ein wichtiges Wächteramt. Dies ist der „weltliche“ Zugang zur heutigen Bibelstelle. Der Zugang des biblischen Gottes ermöglicht noch eine weitere Ebene. In der Auffassung der TheologInnen, die den Traumansatz des Ezechiel Buches verfolgen, erscheint selbst Gott als traumatisiert. Trotz der Fürbitte des Ezechiels erhebt sich die Herrlichkeit Gottes aus der Stadt hinweg: „Da zog die Herrlichkeit des HERRN aus, weg von der Schwelle des Tempels“ (Ez 10,18) und bleibt auf einem Berg im Osten, wohl dem Ölberg. Auf jenem Berg kündigt Jesus später die Zerstörung des Tempels an (Mt 24 und Mk 13), das Weinen Jesus über Jerusalem (Lk 19,41-44) wird dort verortet und es ist jener Ort an dem Jesus in Todesangst betete: „Und er betete in seiner Angst noch inständiger und sein Schweiß war wie Blut, das auf die Erde tropfte“ (Lk 22,44).
Das Trauma Gottes im Buch Ezechiel, aber noch mehr das Trauma, das Gott und sein Sohn am Ölberg erleben, zeichnet ihn als zutiefst menschliche Gottheit aus, die gerade aufgrund dieser Erfahrungen die menschlichen Abgründe zu erfassen vermag. Die Bibel beschreibt uns einen Gott, der mitgeht durch Wasser und Wüste, durch Ebene und auf Berge, der sich von keinem Elend ausschließt, sich nicht davonschleicht wenn es hart wird, der sich kein Schicksal erspart.
Am Ende sieht Ezechiel visionär zwar den neuen Tempel in Jerusalem und den Wiedereinzug der Herrlichkeit Gottes, allerdings wird es sonst viel Veränderung geben, es wird kein „wir haben es immer schon so gemacht“ mehr möglich sein. Der Kultus wird neu geordnet und das gesamte Land wird anders verteilt werden. Es wird keinen König mehr geben, sondern einen Fürsten.
Rückbesinnung, Umkehr, Umdenken ermöglichen eben kein Weiterleben so wie es immer schon war, Umdenken bedeutet sich auf Veränderung einlassen zu können – eben die Hoffnung auf ein neues und kein altes Jerusalem.
Wenn Sie den Text der 1. Lesung aus dem Buch Ezéchiel anhören möchten:
Wenn Sie den Text der 2. Lesung aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Philíppi anhören möchten:
Wenn Sie den Text aus dem heiligen Evangelium nach Matthäus anhören möchten: